Allein der Blick auf das Jahr der Fertigstellung der Oper „Der Sturz des Antichrist“ – 1935 – macht sie zu einem erstaunlich vorausschauenden Werk. Der von den Nazis 1944 in Auschwitz ermordete Komponist Viktor Ullmann und sein Textdichter Albert Steffen verhandeln darin nämlich den Größenwahn und die Selbstüberhebung eines Regenten, dessen reale Vorbilder da längst Europa in Angst und Schrecken hätten versetzten müssen. Sie nennen es ein „Bühnenweihefestspiel“. Was jetzt in Leipzig an großformatig Getragenem vom Gewandhausorchester unter Leitung von Matthias Foremny zu hören war, kommt dem, was man – Wagners „Parsifal“ im Ohr – dabei erwartet, durchaus nahe.
Vorspiel zum Wagner22-Marathon
Mit Pause war man allerdings bereits nach zweieinviertel Stunden erlöst. Im Saal der Oper Leipzig freilich bediente Ullmanns so eigene, wie auch die Ambitionen aller postwagnerianischen Großorchestrierer und Richard-Strauss-Konkurrenten aufgreifende Musik nicht nur Entdeckerneugier, sondern bereitete Vergnügen. Die kleine Aufführungsserie zum Spielzeitauftakt lieferte keinen Kontrast zum geplanten Wagner22-Marathon, mit dem Ulf Schirmer alle Wagneropern zum Schlusspunkt seiner Intendanz vereinen will, sondern stimmte schon mal drauf ein.
Ihre Uraufführung erlebte Ullmanns Oper erst Mitte der 80er Jahre in Bielefeld. Erst da ließ sich die Vorherrschaft der seriellen Nachkriegsavantgarde für Vertreter einer gemäßigten Moderne durchbrechen. Die Folgeinszenierungen bleiben dennoch an einer Hand abzuzählen. Den Lorbeer für eine ambitionierte Wiederentdeckung, die gleichwohl ins aktuelle Programm und auch irgendwie in unsere Zeit passt, hat Leipzig damit schon mal verdient.
Wer ist Ihr Favorit unter den Diktatoren der Geschichte oder der Welt von heute?
Auch bei der Besetzung und der Inszenierung lässt man sich nicht lumpen. Inhaltlich ist man vor allem über einen Exkurs zur bemannten Raumfahrt verblüfft. Im Stück zwingt der namenlose Regent einen Techniker dazu, mittels Raumfahrt die Schwerkraft zu überwinden. Dessen wortreicher Bericht (der weit über Juri Gagarins berühmte Worte „Dunkel ist der Weltraum…“ hinausgeht) passt aber dem Regenten nicht, und er greift kurzer Hand zur Waffe. Auch was dieser Herrscher vom Priester (der soll Steine zu Brot verwandeln) und vom Künstler (der soll ihn verherrlichen) verlangt, bekommt er nicht. Regisseur Balázs Kovalik verkneift sich, direkte Ähnlichkeiten mit bekannten Vertretern dieser „Berufsgruppe“ aufzuzeigen und überlässt es den Zuschauern, sich Favoriten unter den Diktatoren der Geschichte oder der Welt von heute dazu zu denken. Die Moral von der Geschichte liefert der Titel: den Sturz des Antichristen als welcher der Regent am Ende allen gilt. Für die Oper half dieses Gottvertrauen, in der Wirklichkeit der Dreißiger und Vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts reichte es bekanntlich nicht.
Kongeniale Zweieinigkeit von Text und Musik
Eine Herausforderung für die Rezeption, vor allem, wenn man mit dem Anspruch herangeht, dass sich die Bedeutung jedes Halbsatzes erschließt, bleibt das Werk nicht wegen der Musik, sondern wegen der mitunter ziemlich krude und esoterisch wirkenden Sprache des Anthroposophen Albert Steffen. Aber die kongeniale Zweieinigkeit von Text und Musik ist ja auch sonst eher die Ausnahme, als die Regel.
Für den Regenten ist das Gemeinwohl mit der eigenen Macht identisch.
Zum Auftakt streiten die exemplarischen, namenlosen Protagonisten Techniker, Priester und Künstler über ihren Beitrag zum Wohl der Menschheit – während für den Regenten das Gemeinwohl mit der eigenen Macht identisch ist und er ihre Dienste rabiat für sich instrumentalisieren will. Der Künstler (Stephan Rügamer) weigert sich und landet im Knast. Der Techniker (Kay Stiefermann) lässt sich dazu zwingen, als Raumfahrer die Überwindung der Schwerkraft zu beweisen. Auch der Priester (Dan Karlström) lässt sich auf den erzwungenen Hokuspokus ein, mit der Verwandlung von Steinen in Brot, die Ernährung des Volkes zu sichern. Der im Widerstand gegen den Diktator, diesen Antichristen, aufkeimende Gedanke, sich zu verbünden, kommt am Ende noch einmal auf der Übertiteltafel auf unsere Augenhöhe ganz direkt als Wegzehrung: „trennt euch nicht!“ ist da zu lesen. Als tagestaugliches Fazit von jeder Menge Ich-bin-Rhetorik davor, deren Fruchten bei den Massen man ja durchaus als aufklärerische Voraussetzung für Gemeinsinn deuten könnte.
Wie in einem Science Fiction-Film
In der futuristischen Ästhetik von Ausstatter Stephan Mannteuffel, mit Tagebaurundhorizont, auf und ab fahrender Hebebühne und einer freischwebenden viereckigen Spielfläche, die wie ein einschwebendes Raumschiff in einem Science Fiction-Film wirkt, bleibt genügend Raum, um mit Hilfe der Musik den Absonderlichkeiten der Sprache zu entkommen. Dass der Sänger des Regenten, Heldentenor Thomas Mohr, vom Rollstuhl aus singt und Kovalik selbst ihn schiebt oder in der Höhe an seiner Stelle agiert, hätte genauso gut eine Regieeinfall sein können. Der Beifall für das Ensemble (und das Werk) ist einhellig. Auch für den von Alexander Stessin einstudierteren Chor und für Sebastian Pilgrim und Martin Petzold, die als Wärter und Ausrufer das Protagonistenensemble komplettieren.