Über den Lebensweg des neuen Bayreuther Holländers erfährt man weniger und mehr als üblich. Von seinem Schiff jedenfalls, falls er denn mit solch einem Fahrzeug unterwegs sein sollte, ist nichts zu sehen. Auf der Bühne gibt es nur ein halbes Dutzend trister, zweigeschossiger Häuser samt einer Dorfkirche, die immer wieder wie von Geisterhand und manchmal hörbar rumpelnd ihren Platz wechseln. Angedeutete Straßen mit Peitschenleuchten werden so im Handumdrehen zu einem Platz für die Dorfgemeinschaft für Campingtische und -stühle. Für stampfend schunkelnde Besäufnisse mit Polonaise. Am Anfang auch für eine fiese Mobbing-Aktion gegen eine Frau, die ein (dem Anschein nach nur halbfreiwilliges) Verhältnis mit einem Mann hat, dafür ausgegrenzt wird und sich schließlich erhängt. Am Ende sieht es auf diesem Platz aus, wie nach einer Schlacht. Tote bleiben zwischen dem Gerümpel liegen, zu denen auch der Titelheld gehört.
Der fliegende Holländer und das Trauma seiner Kindheit – viele Thesen und viele offene Fragen
In der Inszenierung und dem Bühnenbild des Russen Dmitri Tcherniakov sollen diese beiden Bilder wohl eine Klammer sein. Denn die erste beschriebene Dorfplatzszene zeigt während der Ouvertüre das Trauma seiner Kindheit. Als kleiner Junge sieht er, was seine Mutter so treibt, und auch ihren Selbstmord. Möglicherweise war der Plan bei seiner Rückkehr nach deutlich mehr als sieben Jahren, als erwachsener Mann mittleren Alters, Rache für die Mutter zu nehmen. Dass er dafür Senta in den Abgrund reißen will, wäre schon ziemlich verquer gedacht. Denn man nimmt ihm durchaus ab, dass er bei einem gemeinsamen Abendessen an der gedeckten Tafel in Dalands und Frau Marys Wintergarten ernsthaft um Senta wirbt. Vielleicht ist es so, dass aufkommende Skrupel und das Trauma zu seinen plötzlichen Schüssen in die Menge führten?
Dieses Verhalten des Holländers gehört zu den Thesen, die Tcherniakov in den Raum stellt und dort stehen lässt. So ähnlich ist es auch, wenn Frau Mary am Ende mit der Flinte anrückt und den Holländer kurzerhand erschießt. Nachdem sie vermutlich einen Brand gelegt hat, der an andere Brandstiftungen in späteren Wagneropern erinnert. Wenn sie etwas über den Mann weiß, das uns und allen anderen verborgen geblieben ist, oder wenn sie ihm in ihrer Jugend selbst schon einmal gefährlich nah gekommen sein sollte und sich gerade noch an Dalands Seite und ans bürgerliche Ufer des Lebens gerettet haben sollte, würde das Sinn machen. Aber in der Konstellation, die Tcherniakov entwirft, bleibt das eine weitere offene Frage.
Asmik Grigorian als Senta ist darstellerisch und stimmlich eine Idealbesetzung!
Und dann Senta. Mit jeder Faser ihres energiegeladenen Körpers, mit jeder Bewegung ist sie die pure Revolte. Dafür ist Asmik Grigorian darstellerisch und stimmlich eine Idealbesetzung! Klar, dass der Vater (Georg Zeppenfeld ist als Daland wie immer ein vokaler Fels in der Brandung) diese Göre unter die Haube bringen will. Aller Ehren wert, dass sich Erik (Eric Cutler mit eindrucksvoller Verve) echt um sie bemüht und hofft, sie zur Räson zu bringen. Senta hingegen hat — trotz geordneter Verhältnisse hinter blanker Fassade — nur einen Wunsch: Sie will weg. Wie sie ausgerechnet auf den Holländer kommt, dessen brav zum Kennenlern-Essen mitgebrachte Blume sie achtlos wegwirft, bleibt ihr Geheimnis. Im (Lebens-)Chor des Dorfes, den Frau Mary leitet, will sie jedenfalls nicht mitsingen.
Buhs für Tcherniakov und seine Regie-Sackgassen
Tcherniakov erzählt mehrere Geschichten, die allerdings weder wirklich zueinanderfinden, noch Wagners Vorlage einen in sich geschlossenen eigenen Entwurf entgegensetzen, von dem man sich gern und gespannt auf assoziative Abwege (ver-)führen lassen würde. Bei seiner „Carmen“ in Aix-en-Provence zum Beispiel war ihm das mustergültig gelungen. Sein „Holländer“ dagegen hinterlässt mehr offene Fragen und etliche gedankliche Sackgassen. Es ist trotz seiner ausgefeilten Personenregie (auf die vor allem Grigorian mit ihrer Senta voll einsteigt) nicht seine stärkste Regiearbeit geworden. Beim Schlussapplaus bekam er das in Form von etlichen Buhs deutlich zu hören. Pro und Contra bei Neuinszenierungen gehören (nicht nur) in Bayreuth dazu — und mit offenen Fragen das Haus zu verlassen, ist ja nicht das Schlechteste.
Viel Beifall für das Protagonistenensemble
Bei den Sängern vermochte neben Grigorian und Zeppenfeld vor allem Marina Prudenskaya die Aufwertung der Frau Mary vokal und darstellerisch zu beglaubigen. John Lundgren schien mit seinem Holländer jenseits des Dämonischen noch etwas zu fremdeln — lieferte aber ein vokal eindrucksvolles Rollenporträt. Attilio Glaser komplettierte als Steuermann das insgesamt vom Publikum mit viel Beifall bedachte Protagonistenensemble.
Die spannende künstlerische Novität war freilich nur hör- und nicht sichtbar. Im verdeckten Graben stand zum ersten Mal in der Festspielgeschichte mit Oksana Lyniv eine Frau am Pult des Wagnerspezialorchesters. Sie musste nicht nur — wie alle ihre männlichen Vorgänger auch — mit den Besonderheiten der Hausakustik gerade für Wagners frühen „Holländer“ klarkommen, sondern auch noch coronabedingte Zusatzhürden nehmen.
Der Chor in Coronazeiten bleibt ein Problem
Für die 911 Zuschauer, die für den 2000 Plätze-Saal eine Karte bekommen hatten, waren die pandemiebedingten Einschränkungen mit dem Vorteil von freien Plätzen um den eigenen Platz herum verbunden. Bei den Mitwirkenden musste — neben dem dauernden Testen — vor allem der Chor einiges mitmachen. Er war geteilt. Die eine Hälfte spielte stumm auf der Bühne. Die andere sang im Probensaal und wurde zugespielt. Das funktionierte technisch im Großen und Ganzen recht gut. Auch dank der routinierten Choreinstudierung durch Eberhard Friedrich. Wenngleich man vor allem gegen Ende dann doch bemerkte, dass die Spannung, die vom Singen auf der Bühne in die Aktion einfließt, fehlte. Berücksichtig man diese außergewöhnlichen Bedingungen mit, war das ein fulminantes Debüt für die Dirigentin. Ihre intensiven Vorbereitungen, von denen sie im Vorfeld berichtet hat, haben sich für sie gelohnt. Ihr schlug eine Welle der Sympathie und Begeisterung entgegen, die sie wohl ermutigen dürfte, „dran“ zu bleiben!
Am Gesamtkunstwerk Bayreuth inszenieren ja viele mit. Zum Beispiel Sänger wie Günther Groissböck, der fünf Tage vor der „Walküre“-Premiere bemerkt, dass er den Wotan doch lieber noch nicht singen will (oder kann). Womit er Festspielchefin Katharina Wagner in den akuten Krisenmodus versetzt hat. Die hat jedoch in kürzester Frist (mit Tomasz Konieczny) eine Ersatzlösung präsentiert, die sich hören lassen kann.
Die Politik und die Polizei
Und dann ist da ja noch die Politik, für deren Personal die Eröffnung der Bayreuther Festspiele immer noch eine Bühne ist, auf der man sich gern zeigt. Neben der als Wagnerfan ausgewiesenen Kanzlerin waren diesmal auch noch die Ministerpräsidenten aus Sachsen und dem Saarland mit dabei. Der bayerische Regierungschef Markus Söder gehörte nicht nur zu den Gästen, sondern, als oberster Dienstherr seiner Polizei, auch zu den Mitregisseuren. So viel Polizei wie diesmal (wegen der Sicherheit und des Virus?) auf dem Grünen Hügel Präsenz demonstrierte, gab es (zumindest gefühlt) noch nie. Die Damen und Herren in blau waren ausgesprochen freundlich zu den Besuchern, aber Teil des Kulturerbes sollten sie trotzdem nicht werden. Wie heißt es so schön im „Holländer“? „Steuermann! Lass die Wacht!“ Da ist wohl auch im übertragenen Sinne was dran…
Bayreuther Festspiele
Wagner: „Der fliegende Holländer“
Oksana Lyniv (Leitung), Dmitri Tcherniakov (Regie & Bühne), Elena Zaytseva (Kostüme), Gleb Filshtinsky (Licht), Eberhard Friedrich (Chöre), Georg Zeppenfeld, Asmik Grigorian, Eric Cutler, Marina Prudenskaya, Attilio Glaser, John Lundgren, Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele