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Opern-Kritik: Eutiner Festspiele – La Bohème

Direkt ins Herz

(Eutin, 1.8.2021) Eine wunderbare junge Sängerschar verkörpert auf der Holsteinischen Seebühne Puccinis Pariser Lebenskünstler – da wird die Besetzung vollends zum Konzept.

vonPeter Krause,

Mittags prasselt noch ergiebiger Landregen auf die sanften Hügel der holsteinischen Schweiz. In Italien und Frankreich mag die sommerliche Oper unterm Sternenhimmel eine durchweg sichere Wetterbank sein. Im Norden allerdings zeigt sich der Wettergott nicht immer als wohlmeinender Bruder seines Kollegen aus dem Opernfach, er gleicht hier eher einer zickigen Diva, die macht, was sie gerade will. Doch an diesem Sonntag einigen sich die beiden. Die Wolken reißen auf, sogar die Sonne zeigt sich. Es ist nicht zu warm und nicht zu kalt. Die Zuschauertribüne der Eutiner Festspiele ist zur Nachmittagsvorstellung nach dem bereits im vergangenen Jahr erprobten und für sicher befundenen Salzburger Vorbild im Schachbrettprinzip knapp zur Hälfte besetzt. Die Sitze sind jetzt längst wieder abgetrocknet. Nur die Plastikplane auf dem Orchestergraben wird nicht abgenommen – denn ein paar Tropfen des himmlischen Nass würden reichen, um den Instrumenten der Kammerphilharmonie Lübeck gehörigen Schaden zuzufügen.

Maestro Griffiths: Ohne Noten durch Puccinis Partitur

Maestro Hilary Griffiths nötigt die Trennung zwischen Graben und Bühne freilich eine dirigentische Elastizität ab, die enorm ist. Wenn er Impulse und Tempovorgaben ins Orchester sendet, beugt er sich flugs hinab, damit ihn auch wirklich alle Musizierenden sehen können. Wenn er indes dem Sängerensemble seine Einsätze gibt, streckt er sich nach oben, damit seine Gesten dort oben präzise wahrgenommen werden können. Der Engländer wechselt traumwandlerisch zwischen den beiden Ebenen, er führt gleichermaßen straff und flott wie mit feinem, atmenden Gespür für das Tempo rubato durch Puccinis Partitur – übrigens, ohne die Noten selbst vor sich liegen zu haben, Griffiths dirigiert auswendig. Die Eutiner Festspiele können sich glücklich schätzen, den einstigen Musikdirektor des traditionsreichen norddeutschen Festivals für die große Opernproduktion des Sommers 2021 gewonnen zu haben. Eigentlich sollte diesmal „Der Freischütz“ aus dem Programm stehen, das romantische Meisterwerk des größten Sohnes der Stadt. Die pandemischen Risiken einer so großen Choroper schienen im Vorfeld kaum kalkulierbar. Der Wechsel zur überschaubar dimensionierteren „La Bohème“ erwies sich als weise. Und im Ergebnis als echter Glücksfall.

Eutiner Festspiele: La Bohème
Eutiner Festspiele: La Bohème

Authentizität und ideale Präsenz des jungen Sängerensembles

Denn die Eutiner Festspiele suchten sich eine handverlesene internationale junge Sängerschar für Puccinis Pariser Herzschmerzoper zusammen, die den Künstlerfreunden des Quartier Latin nun (noch bis 21. August) eine ungeahnte Authentizität verleiht. Die Besetzung harmoniert zudem so ideal miteinander, die Stimmen mischen sich so perfekt, dass man die großen etablierten Sängernamen des Puccinifachs, wie sie zeitgleich in Verona oder Torre del Lago auftreten, mitnichten vermisst. Es sind mitsammen schlanke Stimmen, dabei alle gut geführt und perfekt projizierend, sodass die reine Naturakustik der Seebühne ohne jede elektronische Verstärkung eine ideale Präsenz der Sängerinnen und Sänger auf dem Halbrund der Zuschauertribüne bewirkt.

Die Mimì der Alyona Rostovskaya ist eine Entdeckung.

Einige veritable sängerische Entdeckungen gibt es sogar zu bestaunen. Im besonderen ist dies die Mimì der Alyona Rostovskaya. Die junge Russin, die zu Beginn ihrer Karriere bereits Tschaikowskys Tatjana in ihrer Heimat sang, hat als Puccinis Femme fragile eine Anmut, die ganz direkt berührt. Ihr edler Sopran verströmt einen zarten Silberglanz, besitzt ein delikates natürliches Vibrato – und geht in ihrer sängerdarstellerischen Wirkung sehr zu Herzen, wie es die so legendären lyrischen Rollenvorgängerinnen Mirella Freni oder Miriam Gauci einst vermochten. Die enorm konzentrierte Präsenz dieser grazilen Erscheinung hat etwas genuin Zauberhaftes. Der hochgewachsene Aleksandr Nesterenko als Rodolfo ist mit seinem mit feinen Kopfstimmenresonanzen abgemischten Tenor ohne jedes Fett in der Stimme ein wirklich jungmännischer Liebhaber. Der Russe vertraut seinem feinen Organ, will die Stimme nicht größer machen, als sie ist, forciert nicht, sondern singt einfach, mit guter Technik und gutem Geschmack. Der baritonberedte, hell timbrierte Marcello des Miljenko Turk, der dunkler gefärbte und kernigere Fachkollege Manos Kia als Schaunard, der Bassnoble Sargis Bazhbeuk-Melikyan als Colline und die soubrettensichere Ines Lex als Musetta vervollständigen das Ensemble junger Sängerdarsteller.

Eutiner Festspiele: La Bohème
Eutiner Festspiele: La Bohème

Sommerliche Augenfreuden

Igor Folwill nimmt die Sänger in ihrem Charakter so ernst, wie er in seiner Inszenierung dem Libretto und der Musik vertraut – eine selten gewordene Tugend im scheinbar allgegenwärtigen Diskurs des Dekonstruktionsfurors, wie er in diesem Sommer die großen Festivals von Bayreuth über Salzburg bis Aix prägt. Der Regisseur will das Werk nicht neu erfinden. Er erzählt die Geschichte mit viel Empathie und viel Liebe zu den Figuren, im zweiten Bild des Café Momus dann auch mit der Zirkus-Lust am Open Air-Spektakel, wenn er den Chor mit Kleindarstellern ergänzt und eine Ballerina und einen Stelzenmann, einen Clown und einen Eisverkäufer, einen Gewichtheber und eine Wahrsagerin bunt gewandet (Kostüme: Martina Feldmann) auftreten lässt. Da kommt richtig viel Farbe ins Spiel. Die macht sommerliche Augenfreude.

Liebenswerte Lebenskünstler

Seine Solisten führt Igor Folwill mit jener liebevollen Einfachheit des Erzählens, die für das Publikum eine unverkopfte Unmittelbarkeit und grundehrliche Emotionalität herstellt. Da werden die Künstlerfreunde des „großen“ Dichters Rodolfo, des „großen“ Malers Marcello, des „großen“ Musikers Schaunard und des „großen“ Philosophen Colline in ihrer schrundig kalten Männer-WG zu den liebenswerten Lebenskünstlern, die sich in ihre Ideale und Tagträume hinüberretten, um an der bösen Realität bitter zu scheitern. Ob sie im Sterben der Zauberfrau Mimì neu zusammenfinden werden? Die kluge Reduktion der Bühne von Jörg Brombacher, die auf einer Art Manege mit wenigen sprechenden Requisiten auskommt (ein mit Rodolfos Dramen befeuerter Ofen und seine Schreibmaschine für die Mansarde der Künstler-WG, ein paar Kaffeehaustischchen für das zweite Bild) bewirkt, dass die Figuren unsere ungeteilte Aufmerksamkeit erhalten, dass uns ihr Schicksal in echter Frische etwas angeht, dass große Oper als Kraftwerk der Gefühle entsteht, ohne dass es dazu irgendwelcher Materialschlachten oder Neudeutungen bedürfte. Bravi tutti!

Eutiner Festspiele: La Bohème
Eutiner Festspiele: La Bohème

Die jüngste Ankündigung von Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther, dass 3,15 Millionen Euro Fördermittel der Europäischen Union für eine mobile Überdachung der neuen Festspiele-Tribüne bereitstünden, macht die Eutiner Festspiele zukünftig noch unabhängiger vom launischen Wettergott.

Eutiner Festspiele

Puccini: La Bohème

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