Das wegen der Pandemie von 2020 auf diesen Sommer verlegte 100-Jahre-Jubiläum steht unter einem guten Stern: Das pyramidonale Programm findet für die voll freigegebene Platzzahl statt. Siemens- und Kühne-Stiftung bleiben Hauptsponsoren der Festspiele. Gilles Pecout, Botschafter der Republik Frankreich in Österreich, zeichnete Präsidentin Helga Rabl-Stadler als „Commandeurdes Arts et Lettres“ und Intendant Markus Hinterhäuser als „Officier des Arts et Lettres“ aus. Die Musiktheater-Produktionen sind mit Bezügen zur Antike, viel Mozart und seit 1945 entstandenen Werken ein Bekenntnis zur Vision der Gründer Hugovon Hofmannsthal, Max Reinhardt und Richard Strauss. Und es gibt – wie bei der aufwändigen und zwiespältigen Neuproduktion von Mozarts „Don Giovanni“ – Kontinuität: Romeo Castellucci kommt nach seinem „Salome“-Erfolg von 2018 wieder an die Salzach, und Teodor Currentzis ist längst eine ganz dicke Salzburger Programmsäule. Die beiden kreieren um die Reizwörter Tod, Narzissmus und weibliche Sexualerfüllung ein wahrscheinlich sündteures, aber dünnblütiges Spektakel.
Kirchliche Deko-Orgie
Sicher dachte Romeo Castellucci, der beim Terrassentalk jedes Wort seines Konzeptkonstrukts zur „Oper aller Opern“ ablas, nicht an die baufällige Salzburger Kirche St. Nicolei, die Mozarts Dienstherr Fürstbischof Colloredo zum Verkauf ausschrieb und von Hofmaurer-Meister Laschensky 1782 in ein Wohnhaus umgebaut wurde. Erst räumen Bauarbeiter den das riesige Bühnenvolumen des Großen Festspielhauses umrahmenden Kirchenbau aus. Ständig fallen Kleinigkeiten von der Bühnendecke: Ein Auto, ein Rollstuhl, ein zerschellender Konzertflügel. Höhepunkt von Castelluccis Tiermenagerie nach den Auftritten des einsamen Ziegenbocks und einer Ratte ist ein staubzuckeriger Riesenpudel – getrimmt auf Pavianlook, frisch shampooniert und fast ein Fall für Tierwohl-Initiativen. Weiß signalisiert hier und in anderen Manifestationen, dass dem Textiles, Dekoratives und Szenisches verantwortenden Universalvisionär Castellucci momentan wenig einfällt. Die pastorale Hochzeitsgesellschaft erscheint in weiß unter Milchlicht, wie es seit Strehler und Ronconi zur Grundausstattung italienischer Opernkunst gehört. Im zweiten Teil des durch üppige Rezitativ-Improvisationen vom Hammerklavier (Maria Shabashova) auf vier Stunden gestreckten Abends kommen über 100 Salzburgerinnen auf die Bühne, angeleitet im besten eurhythmischen Goetheanum-Stil durch Cindy Van Acker. Während sich Mozarts musikalische Gewitterwolken über dem Verführer ballen, wird die Bühne in imponierender Sekundenschnelle zur Müllhalde.
Rückkehr der beglückten Frauen
Natürlich imponiert das dramaturgische Gedankengebäude mit überdeutlicher Distanz zum unmodern gewordenen T. W. Adorno Richtung de Sade und Lacan. Und natürlich beeindruckt, mit was für einem diensteifrig repetierten Respekt-Mantra zu den Salzburger Traditionen Currentzis & Castellucci die Jubiläumsproduktion fabrizieren: Aber die zum Teil hervorragenden Sängerinnen und Sänger sind oft nur Zinnsoldaten einer die Spannungsmatrix Mozarts und da Pontes ignorierenden Performance: Davide Luciano in der Titelpartie und Vito Priante als für den Verführer die Drecksarbeiten verrichtender Leporello sind physiognomische und stimmliche Zwillinge. Michael Spyres, der umjubelte Ottavio, singt im ersten Teil der zweiten Vorstellung mit zwei Stimmen. Mika Kares‘ samtene Monochromie passt in Salzburg zum Komtur besser als zum König Marke im Münchner „Tristan“. Aber David Steffens singt kultivierter und stimmiger, als es die Regie für Masetto, das dumpfe Landei mit Gewaltbereitschaft, erlaubt. Auch an ihm zeigt sich, dass Castellucci, wenn ihm trotz weniger nachhaltiger Materialschlacht der visionäre Atem stockt, in die Mottenkiste mediterraner Stagione-Theater greift: Neben Basketbällen rollen tiefrote Äpfel wie vom Baum der Erkenntnis. Das Landvolk tänzelt, als sei Country-Festival.
Auch zur Champagner-Arie nutzt Castellucci Kniffe bewährter Routiniers: Der Graben fährt hoch, zeigt das musicAeterna Orchestra bei fingierter und Currentzis bei tanzvirtusoser Schwerstarbeit. Dazu singt Davide Luciano das oft mit stilisierter Animalität genommene Paradesolo mit Pikanterie. Auch Elvira wird eskortiert von einem Double, welches Giovanni auf die durch Schäferstündchen-Dauernutzung schmuddelige Schmusematratze zieht. Immerhin erheben Federica Lombardis flutend-üppige Töne Konkurrenz-Anspruch auf den Platz neben Stimmwunder Lise Davidsen. Schwelgen im Überfluss: Anna Lucia Richters ideale Zerlina-Qualitäten wurden von Castellucci weitgehend ignoriert. Das aufregendste Vokalereignis lieferte Nadezhda Pavlova: Eine Donn‘ Anna,welcher die psychischen und erotischen Stigmata der Partie ins poröse wie aufregende Timbre tätowiert sind. Sie hat das kongeniale Chiaroscuro für Mozarts Oper und könnte getrost auf die schwarz verschleierte Fraueneskorte, die synchron ihre Unterleiber in die Höhe warf, verzichten. Nadezhda Pavlova ist der faszinierende und wertvollste Höhepunkt dieser Aufführung.
Interpretationsübereifer
Erinnern Sie sich? Anno 1987 monierte man, dass in Herbert von Karajans und Michael Hampes weichzeichnendem Salzburger „Don Giovanni“ kaum noch Mozarts genialer Ausdruckskosmos zu erkennen war. 2021 erreichte man den konträren Pol des Interpretationsspektrums – mit vergleichbarer ästhetischer Innenspannung wie 1987 zur 200. Wiederkehr der Uraufführung. Mehr historisch informierte Aufführungspraxis ist unmöglich, auch nicht mehr individualitätssüchtiger dirigentischer Impetus als der von Teodor Currentzis. Laute und Gitarre (Yavor Genov) grundieren die für jede Musiknummer frisch auf strukturierten Orchesterreliefs. Klangarchitekturbüro Currentzis relaunched mit der Consulting-Agentur Castellucci Mozarts Sturm-und-Drang-Partitur als exklusives Vintage für die Bühnenlandschaft am Mönchsberg. Tempokontraste sind in erster Linie Virtuosenspielchen.
Ergänzend machen Vokalverzierungen, Instrumental-Varianten und Extempores emotionsfreien Effekt. Leporello schiebt zur Registerarie über Giovannis Fraueneroberungen eine Copy-Print-Fax-Scan-Machine herein. Dabei hätte Currentzis‘ musikalische Leistung weitaus mehr werden können als erotikfreies Patchwork aus erstklassig recherchierten und hochaufgelösten Bildungspigmenten. Castelluccis Imagination von Sophokles‘ „Oedipus der Tyrann“ für die Berliner Schaubühne war ein Mysterienspiel im Nonnenkloster, wo Heiligenstatuen lebendig werden und Reden schwingen. Ergänzt man dieses Ambiente mit Castelluccis Pasolini-Devotion, hat man die Hauptzutaten seines „Don Giovanni“ beisammen. Applaus für die„Jedermann“-Alternative war diesmal der Deckmantel über staubtrockener Ratlosigkeit. Aber der Friedrichstadt-Palast und das Ronacher platzen sicher vor Neid über das blütenweiße Pudel-Wunder.
Salzburger Festspiele
Mozart: Don Giovanni
Teodor Currentzis (Musikalische Leitung), Romeo Castellucci (Regie, Bühne, Kostüme, Licht), Cindy Van Acker (Choreografie), Piersandra Di Matteo (Dramaturgie), Theresa Wilson (Zusammenarbeit Kostüm), Maxi Menja Lehmann (Mitarbeit Regie), Alessio Valmori (Mitarbeit Bühne), Marco Giusti (Mitarbeit Licht), Vitaly Polonsky (Chor), Davide Luciano (Don Giovanni), Mika Kares (Il Commendatore), Nadezhda Pavlova (Donna Anna), Michael Spyres (Don Ottavio), Federica Lombardi (Donna Elvira), Vito Priante (Leporello), David Steffens (Masetto), Anna Lucia Richter (Zerlina), musicAeterna Choir, musicAeterna Orchestra