Wann hätte es das schon mal gegeben, dass ein Saal nahezu geschlossen aufsteht und rhythmisch applaudiert – sogar dem Regieteam? Und das bei Claudio Monteverdi, dem Erfinder der „Fabel mit Musik“, einer Oper, die über 400 Jahre alt ist und doch in Dresden – wo sonst vor allen anderen Wagner und Strauss zu den Lieblingen gehören – noch nie gespielt wurde?
Genesen und gereift: das tenorale Multitalent Rolando Villazón
Solch rauschende Erfolge sind selten geworden, und einen Gutteil verdankt dieser eine sicher den Groupies von Rolando Villazón, der zuletzt im Semperbau Bellini inszenierte und nun selbst in Monteverdis Titelpartie auf der Bühne steht. Der Mexikaner mit den vielen Talenten rappelte sich in den letzten Jahren, vorsichtiger geworden, kontinuierlich aus seinem vor allem von einem bigotten Marketing getriebenen Stimmtief wieder hoch.
Er war Juror, Musikerklärer, Medizinclown, Moderator und Regisseur, drehte Filme, las, schrieb Bücher und übernahm die künstlerische Leitung des Salzburger Mozarteums. Inzwischen sang der Startenor auch wieder, war aber längst nicht mehr so omnipräsent wie zuvor – und es tat ihm und seiner Gesundheit gut.
Der große Sängerdarsteller Villazón
Dass der Jubel in der Semperoper so uneingeschränkt auf ihn niederprasselt, ist dann aber doch verwunderlich, denn in Monteverdis Partie gibt es für einen Tenor erstaunlich viele tiefe Passagen, die Villazón nicht eben in die Wiege gelegt sind. Die beinharten Verzierungen der Partitur verlangen seiner Kehle viel ab, und es braucht einige Zeit, bis er auch in den höheren Lagen den nicht versiegten Schmelz seiner Stimme unter Beweis stellen kann.
Als Sängerdarsteller indes ist Villazón ganz weit vorne – vielleicht der beste unter seinen Tenorkollegen, die oft mehr an ihrem sängerischen Glanz interessiert sind als an der künstlerischen Einheit von Musik und Szenerie. Das mag der Grund sein, warum dieser Sänger zuweilen auch inszeniert: Er betrachtet die Stücke, in denen er wirkt, als Kunstwerk im Ganzen, und das klingt leider viel selbstverständlicher, als es in der Realität oft ist. Seine jungenhafte spielfreudige Ausstrahlung verhilft Villazón damit überall zum Publikumsliebling.
Egomanische Selbstbetrachtung eines Künstlers namens Orfeo
Dabei macht es ihm Nikolaus Habjan nicht schwer, als Orpheus zu reüssieren: Die Spezialität des erst 35 Jahre jungen Österreichers ist es, in seine Regiearbeiten selbst entworfene Puppen zu integrieren, die quasi als Alter Egos das Seelenleben der menschlichen Darsteller spiegeln – oder auch konterkarieren. Habjan deutet die berühmte Fabel um den Sänger, der angeblich selbst Steine zum Weinen bringen konnte, als eine ziemlich egomanische Selbstbetrachtung: Im Kern wagt sein Orfeo den Abstieg in die Unterwelt nicht primär, um Eurydike zu befreien, sondern um sein kurzes Eheglück zu retten.
Seine Frau (Anastasiya Taratorkina) als Mensch scheint dem weinerlichen Helden in Wahrheit ziemlich schnuppe zu sein, und sie hat ja auch kaum etwas zu singen. Mit den silbrig-glänzenden Puppen kann Regisseur Nikolais Habjan nicht nur einen besonderen Zauber kreieren, sondern damit auch diese Geschichte ziemlich bruchfrei und überzeugend erzählen.
Menschwerdung im Tode
Und diese narzisstische Ader ist ja auch schon bei Monteverdi angelegt, dem unser heutiges Rollenverständnis fremd war. Ihm ging es als Pionier der Opernerzählung vor allem darum, Emotionen durch vielerlei musikalische Affekte zu transportieren – 1607 eine absolute Neuerung des Theaters, die jeder Aufführung seines Erstlings von glücklichen Dramaturgen ein bisschen theoretisierend angehängt wird, als sei dies der Kern des Stücks.
Umso erfreulicher wirkt die moderne Ausdeutung an der Semperoper, denn am stärksten ist die Puppenidee am Ende, als Orfeo beim Aufstieg in Apollos Sonnenhimmel nicht nur die leblose Hülle seiner Geliebten zurücklässt, sondern auch sein eigenes Schattenbild zerstört: Erst im Tod ist er wirklich zum Menschen geworden, Ruhm hin oder her.
Phantastisches Geister- und Göttergeflimmer
Zwischendurch allerdings funktioniert diese Puppendopplung nicht immer, zumal Habjan dem schon musikalisch ausdrucksstarken Stück ein wuseliges Drumherum mit allerlei Tricklichtern und einer schraubenartig herausgedrehten Unterweltbühne (Jakob Brossmann) verpasst, die an Science-Fiction-Filme gemahnt und mit ihrem phantastischen Geister- und Göttergeflimmer durchaus viel fürs Auge bietet, aber doch hin und wieder im Konflikt zu den Affekten der Partitur steht.
Der Held des Abends heißt Wolfgang Katschner
Dass die so frisch klingt, als wäre sie gestern erst aufs Papier geworfen worden, liegt vor allem an Wolfgang Katschner, der mit seiner Berliner lautten compagney im Orchestergraben debütiert und damit zum eigentlichen Helden des Abends wird: Der Mann am Pult zehrt von jahrelanger Erfahrung mit Alter Musik, bringt sie zu ungeahnt expressiven Höhen, treibt zu tänzerischen Spurts an und spart andererseits nicht mit glutvollem Sentiment.
Da weiß einer wahrhaftig, was er tut, und er kann es nicht nur seinem Ensemble vermitteln, das in gewohnter Weise stilsicher musiziert, sondern auch den Protagonisten auf der Bühne. Nur mit dem Staatsopernchor, der dieses Repertoire nicht gewohnt ist, hat Katschner seine liebe Not – denn der hat nicht nur mit der rhythmischen und intonatorischen Genauigkeit zu kämpfen, sondern vor allem seine Damen übersüßen ihre Partie durch Vibrato in einer Amplitude, die nicht mehr als künstlerische Freiheit durchgehen kann.
Letztlich ist all das aber Jammern auf hohem Niveau: Denn dieser Monteverdi, noch vor seinem Tod 1643 bis ins 20. Jahrhundert hinein unbegreiflicherweise vergessen, hat auch in Dresden viel zu lange auf seine Erstaufführung warten müssen, das beweist dieser Abend nur allzu deutlich. Und da er in diesem Jahr nur drei Mal nachgespielt wird, sollte man sich dringend beeilen.
Semperoper Dresden
Monteverdi: Orfeo
Wolfgang Katschner (Leitung), Nikolaus Habjan (Regie), Esther Balfe (Choreographie), Jakob Brossmann (Bühne), Cedric Mpaka (Kostüme), Lugh Amber Wittig (Mitarbeit Kostüme), Fabio Antoci (Licht), Benedikt Stampfli (Dramaturgie), Alice Rossi, Rolando Villazón, Anastasiya Taratorkina, Štěpánka Pučálková, Eric Jurenas, Bogdan Talos, Ute Selbig, Tilmann Rönnebeck, Simeon Esper, Rosalia Cid, Sächsischer Staatsopernchor Dresden, lautten compagney BERLIN