Das Theater Hof erwacht mit dem Ballett „Chaplin!“, viel Schauspiel und einer hausgemacht deutschsprachigen Erstaufführung von Philip Glass‚ Oper „The Trial“ aus der von Änderungshochdruck begleiteten Corona-Starre. Die 2014 uraufgeführte Kafka-Oper gelangte bisher 2015 in Magdeburg sowie 2019 am Salzburger Landestheater mit dem englischen Originallibretto Christopher Hamptons zur Aufführung. Das oberfränkische Mehrspartenhaus mit der erfolgreichen Mixtur populärer und neuer Stücke zaubert aus Kafkas lähmend-enervierendem und dunkel drohendem Romantext packendes Theater, das mit strukturierenden Zeichen etwas, aber zum Glück nicht vollständig Ordnung in die rätselhafte Vieldeutigkeit bringt.
Deutschsprachiger Spannungsgewinn
Dirigent Clemens Mohr und Regisseur Lothar Krause übersetzten das Textbuch selbst, nachdem sie in der Spielzeit 2019/20 im Studio Glass‘ erste Kafka-Oper „In the Penal Colony“ erarbeitet hatten, und mussten bei der szenischen Realisation nachhelfen. Sie lassen zu den instrumentalen Vor- und Zwischenspielen das Ensemble originale Kafka-Texte sprechen, was etwas von der mysteriösen Grundstimmung der Prosa in der Oper hält und dem Publikum weitere Spielräume für die eigene Gedankenfreiheit öffnet. Einmal mehr kann man feststellen, was für ein glücklicher kreativer Instinkt Glass fast durchgängig bei der Entscheidung für seine Sujets und Texte leitete. Glass macht seinen Sängern keinerlei Zugeständnisse bezüglich affektiver Nahrungszufuhr aus den Partituren und verhindert psychologische Empathie vorsätzlich. Dabei legt er über die phantastische und bis an die Grenzen der physischen Erträglichkeit reichenden Opernstoffe wie „Strafkolonie“ ein ordnendes wie beklemmendes und in jüngeren Werken zunehmend melodisches Netz aus Klangfäden. Das wirkt aus der Perspektive des aktuellen Schwarmmenschen-Daseins weitaus spannender und kohärenter als die respektvollen Psychologieversuche in Gottfried von Einems „Prozess“-Oper für die Salzburger Festspiele 1953. Denn Glass‘ Musik kann immer das Eine oder das Andere, Alles oder Nichts bedeuten. Wenn vokale Reizmomente entstehen, haben diese nichts zu tun mit „echten“ Emotionen oder informellen Signalen. Glass‘ Musik hat die charismatische Glätte einer Zivilisationspolitur, der nicht zu trauen ist.
Außenseiter
Es waren noch andere Zeiten, als – um Hans Maiers „Außenseiter“ aufzugreifen – man an der Herabsetzung von Frauen, gleichgeschlechtlich Liebenden und Juden das Wertesystem des bürgerlichen Mainstreams bestimmen konnte: Folgerichtig locken vor Annette Mahlendorfs grauen Mauern unter Neonstäben die Weiber – mit roten Schuhen, roten Lippen und großen ummalten Augen. Bei Krause fühlt sich Josef K. ertappt bei dem, was er vielleicht gern möchte und doch nicht tut. Ein typischer Fall von Angst vor der Gedankenpolizei. Nur selten sind K.s Kontaktpersonen Amtsschimmel mit Eierrümpfen, die nicht so recht über den Anlass und die Auswirkungen ihres offiziösen Tuns informiert wirken. Josef K. kommuniziert mit Männern, die ausstaffiert sind wie Zirkusdirektoren oder Rabbis oder Priester.
Der Kunstmaler Tintorelli steht im Outfit zwischen Dandy und Laienbruder wie Franz Liszt vor seinen Weihen. Das Perfide: K. will und kann seiner Lust nicht folgen, ist aber befangen in Angst vor Entdeckung und Bestrafung. Was für unausgegorene, kaum ausgelebte und deshalb kaum strafbare Begehrlichkeiten wälzt dieser Durchschnittsmensch zwischen Schlafstelle und Arbeit? Nicht immer sind die zugesprochenen und zugefügten Kafka-Sätze verständlich. Aber das macht nichts, verstärkt nur den Eindruck der hungrigen Not des Bank-Kurators Josef K., dessen Büro-Situation mit mausgrauen Fräuleins ins Bild kommt wie die Vorderen, mit deren Autorität in erster Linie die erotische Einflusssphäre gemeint ist. Dass diese Bühnenwelt auch nach den Obsessionen in Kafkas gereiztem Literatenhirn fragt, verraten Siebdruck-Porträts des Autors in Rot und Schwarz auf weißer Leinwand.
Genialer Sängerdarsteller für Kafka
Das Theater Hof stellt den passenden Mann für die komplexbehaftete Hauptfigur. Obwohl die Partie des Josef K. von enormem Umfang ist, hat Karsten Jesgarz immer wieder längere Pausen, in denen die Figurenlemuren um ihn den Ton angeben. Auch da entwickelt Jesgarz eine unaufdringliche wie tragende Präsenz, die mindestens so aufregend ist wie das Bacchanal der Posen und Verdrängungen. Er singt das nachdenklich und mit einer Akkuratesse, aus der Sehnsucht nach Buntheit schreit. Ein Charaktertenor für viele Gelegenheiten auch an ganz großen Häusern. Am Aufführungsort Schaustelle, das von Zuschauerseite betrachtet fast alle Vorzüge eines stehenden Theaters aufweist, bestätigt sich einmal mehr, dass jüngere amerikanische Opern an kleineren Häusern andere Vorzüge entwickeln als die gerundete und etwas stylishe Glätte in großen Theatern.
Es gibt keine elektroakustische Verstärkung der kleinen Besetzung aus den Hofer Symphonikern und der Singstimmen. Ein Abend also ohne Sounddesign oder hypnotische Minimalmusik-Klischees. Clemens Mohr am Pult überrascht. Zum einen, weil Glass hier variantenreich abhebt. Klavier und ruppige tiefe Streicher malen Kolorit, darüber tanzen die Holzbläser. Die Stimmen von Stefanie Rhaue, Yvonne Prentki und Inga Lisa Lehr kommen etwas spröder, entwickeln ihr Appeal im zeitlupenhaften Spiel. In den zwischen koboldartiger Getriebenheit und popanzartigen Attitüden springenden Erotikphantasien am Theater Hof gibt es immer wieder Momente, welche an heutige Tendenzen von Verdrängen und Verstörung rühren. Die Unterschiede zwischen der bürgerlichen Vorkriegsgesellschaft von 1910 und der Angstgesellschaft von 2021 sind geringer als gedacht. Den Youtube-Stream vom 16. Juli ab 19.30 bis 18. Juli sollte man sich nicht entgehen lassen.
Theater Hof
Glass: Der Prozess
Deutschsprachige Erstaufführung