Der ebenso tiefe wie permanente Brummton, von dem sich Tonsetzerin Missy Mazzoli zu ihrer 2022 in Oslo uraufgeführten Oper bewegen ließ, erschüttert nun auch zur Deutschen Erstaufführung am Aalto Musiktheater Mark und Bein, ja den ganzen Körper. Die abgründige, gleichwohl die New Yorker Komponistin inspirierende Frequenz weckt – schon durch den von ihr verursachten Schlafentzug – jene Empfindung, die als gesellschaftlich kontraproduktiv gemeinhin unterdrückt wird: Wut. Claire vermag nicht länger an sich zu halten. Die Aggression überkommt sie gegenüber Mann und Tochter wie auch im Beruf. Weil sie ihre Klasse mit einer Schimpfkanonade überzieht, wird die Lehrerin entlassen. Sie gerät an den Sektenführer Howard, der vom Brummen malträtierte Leidensgenossinnen und -genossen um sich schart. Der Guru sucht die Aufmerksamkeit seiner Gefolgschaft von der niederfrequenten Ursache der Qualen fort und auf Meditationsübungen samt Gehorsam ihm gegenüber umzupolen.
Der Fake-Erlöser
Howard ist ein Scharlatan. Er selbst hat den Brummton nie vernommen, doch begreift er ihn als willkommene Gelegenheit zur Machtausübung. Nach der Entlarvung des Fake-Erlösers durch seine einstige, nun aber verstoßene Stellvertreterin Angela, übernimmt Claire die Führung der Gemeinschaft. Das Werk fußt auf einer Erzählung von Jordan Tannahill. Librettist Royce Vavrek überträgt die Steilvorlage des kanadischen Dramatikers und Romanciers in genuines Musiktheater. So ergeben sich denn zahlreiche Anlässe für Arioses samt einer Chorpartie enormen Umfangs. Dramaturgisch wohldosiert, dringt das elektronisch generierte Brummen lediglich an drei Schlüsselstellen aus Mazzolis Partitur. Zunächst kaum wahrnehmbar, schwillt es final ins Riesenhafte an. Solistinnen und Solisten wie auch der Chor lassen sich mit vokal Sang- und Dankbarem vernehmen. Klar bekennen sich die Arien zur eingängig-melodiösen Linie zeitgenössischen US-amerikanischen Musiktheaters. Hingegen tönt der Chor wie aus dem in die Staaten transferierten Ashram. Oft scheint die Metamorphose vom Mantra in den Gospel unmittelbar bevorzustehen.
Szenisch bezwingend
Das Aalto-Theater leistet dem packenden Werk beste Dienste. Suggestiv schildert Regisseurin Anna-Sophie Mahler den Selbstfindungsprozess Claires. Ob physikalisch gegeben oder halluziniert, bleibt ungewiss und letztlich ohne Belang, der Brummton bedeutet Folter und zugleich Chance. Claire akzeptiert seine Faktizität, um Bedrohung in Vorteil zu verwandeln. Denn stärker noch als die von der Attacke auf ihr Gehör hervorgerufene Qual ist ihr Drang, über Menschen zu bestimmen. In Fehleinschätzung der tatsächlichen Durchsetzungsfähigkeit seiner prospektiven Jüngerin hatte ihr Guru Howard das Talent zu Führungsaufgaben lediglich testiert, um sie durch Aufstiegsaussichten desto enger an die Sekte zu binden. Claire belehrt ihn eines Besseren. Aus welcher Quelle ihr Kraft und Mut erwächst, sich final an die Spitze der Sekte zu stellen, zeigt Mahler auf atemberaubende Weise im Verhältnis der sich selbst Entdeckenden zu einem Kojoten. Der immer wieder in nordamerikanischen Städten auftauchende tierische Kulturfolger bewährt sich findig als zugleich an Natur und Zivilisation angepasst. Fortschreitend geht Claire mit ihm eine Symbiose ein. Doch weit mehr noch: Final nimmt sie Kojotengestalt an. In ihr Heulen stimmt das der Sekte ein.
Für alles dies begrenzt Katrin Connan den Bühnenraum dreiseitig durch hohe Wände; Projektionsflächen, auf denen sich Georg Lendorffs Videos mit vom Menschen unberührten Waldlandschaften sowie Morgen- und Abenddämmerung für die Meditationszeiten der Sekte abspulen. Skulptural mitten in den Bühnenraum gewuchtet, zeigt sich lange Zeit hindurch und monumental das englische Wort für den durch den Brummton ausgelösten Affekt: „Anger“. Pascale Martins Kostüme unterscheiden zwischen nordamerikanischer Mittelschicht und Sektengewandung mit fernöstlicher Note. Guru Howard kommt gleich einem Sarastro auf der Schwundstufe daher.
Musikalisch überragend
Phänomenal die musikalische Seite dieser deutschen Erstaufführung. Unter Klaas-Jan de Groot misst der Chor des Hauses präzise und vollkommen durchhörbar das Spektrum zwischen meditativer Schwerelosigkeit und jenem gewaltbereiten Mob aus, zu dem die Sekte wider ihre Kritiker mutiert. Andrea Sanguineti lässt die Essener Philharmoniker die unverkennbar auf das große Publikum zielenden amerikanischen Eigenheiten der Partitur herausarbeiten und weiß zugleich die Differenziertheit von Mazzolis musikalischem Idiom zu würdigen. Die famose Betsy Horne verkörpert Claire Devon. Bei Hornes jugendlich-dramatischem Aplomb bleibt letztlich kein Zweifel an Claires Führungstalent. Für den Sektenguru Howard Bard bietet Heiko Trinsinger viel ebenso schmeichelnde wie durchsetzungsfähige Baritoneleganz auf. Deirdre Angenent beglaubigt als des Sektenführers abgesetzte Stellvertreterin Angela Rose den Umschlag von Willfährigkeit in Rachedurst. Der Tänzer und Choreograf Ivan Estegneev verleiht dem Kojoten soviel Tierisches wie nötig und Menschliches wie möglich.
Aalto Musiktheater
Mazzoli: The Listeners
Andrea Sanguineti (Leitung), Anna-Sophie Mahler (Regie), Katrin Connan (Bühne), Pascale Martin (Kostüme), Paul Grilj (Licht), Georg Lendorff (Video), Ivan Estegneev (Choreografie), Klaas-Jan de Groot (Chor), Betsy Horne, Mandla Mndebele, Lisa Wittig, Aljoscha Lennert, Heiko Trinsinger, Deirdre Angenent, Tobias Greenhalgh, Johannes Weisser, Ivan Estegneev, Iva Seidl, Laura Kriese, Marie-Helen Joël, Christina Clark, Robin Grunwald, Michael Kunze, Uta Schwarzkopf / Helga Wachter, Stefanie Rodriguez / Astrid Wittkop, Cassandra Doyle, Idil Kutay, Essener Philharmoniker, Opernchor des Aalto-Theaters
Termintipp
Sa., 01. Februar 2025 18:00 Uhr
Musiktheater
Mazzoli: The Listeners
Anna-Sophie Mahler (Regie)
Termintipp
So., 09. Februar 2025 18:00 Uhr
Musiktheater
Mazzoli: The Listeners
Anna-Sophie Mahler (Regie)
Termintipp
Fr., 28. Februar 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Mazzoli: The Listeners
Anna-Sophie Mahler (Regie)
Termintipp
Sa., 08. März 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Mazzoli: The Listeners
Anna-Sophie Mahler (Regie)
Termintipp
Sa., 22. März 2025 18:00 Uhr
Musiktheater
Mazzoli: The Listeners
Anna-Sophie Mahler (Regie)