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Opern-Kritik: Anhaltinisches Theater Dessau – Wozzeck

Berg-Sternstunde beim Kurt Weill Fest

(Dessau, 1.3.2025) Büchners und Bergs Themen sind Sprachlosigkeit, Entfremdung, Einsamkeit und – Femizid. Christiane Ivens packende Inszenierung von „Wozzeck“ greift alle diese Aspekte auf, ohne den musikalischen Formplan für die fünfzehn Bilder konzeptionell zu überfrachten. Markus L. Frank macht am Pult der Anhaltischen Philharmonie die Nähe zur spätesten Romantik hörbar.

vonRoland H. Dippel,

Die Reihung eines Bühnenwerks von Kurt Weill im Wechsel mit einem den Stilen des Dessauer Kantorensohns nahestehenden Komponierenden für das Kurt Weill Fest Dessau geriet in den letzten Jahren etwas aus der Ordnung. So folgten für das wichtige Festival am Anhaltischen Theater auf Zemlinskys „König Kandaules“ (2024) zwei fast gleichzeitig entstandene, die Abgründe menschlichen Seins berührende Meilensteine der Moderne. Erst Szymanowskis „König Roger“ (1926) über die religiös-spirituelle Selbstfindung eines Monarchen und jetzt – zum 125. Geburtstag Kurt Weills – eine Hommage zum 100. Jahrestag der Uraufführung von Alban Bergs „Wozzeck“.

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Georg Büchners erst im frühen 20. Jahrhundert ins allgemeine Bewusstsein gerücktes Dramenfragment ist eines der wichtigsten deutschen Literaturstücke: Verfilmt, Schulstoff und Zitate-Fundgrube von „Wir arme Leut’“ bis zum von Berg als Melodram für Marie gesetzten Anti-Märchen. Der als reale Person nach dem Mord an seiner Geliebten 1824 in Leipzig hingerichtete Soldat Johann Christian Woyzeck ist auch in Bergs für die Zwölftonmusik maßstäblich gewordener Vertonung der Brennpunkt eines „schmutzigen Klassikers“ über prekäre Verhältnisse: Büchners und Bergs Themen sind Sprachlosigkeit, Entfremdung, Einsamkeit und – in der Dessauer Neuproduktion zentral – Femizid.

Szenenbild aus „Wozzeck“
Szenenbild aus „Wozzeck“

Christiane Ivens packende Inszenierung greift alle diese Aspekte auf, ohne Bergs musikalischen Formplan für die fünfzehn Bilder konzeptionell zu überfrachten. Vielmehr bekennt sich Iven mit dem kongenialen Bühnenbildner Guido Petzold und den stilisierenden Kostümen Kristina Böchers zu einer fast realistischen Darstellung mit minimaler Zeitlupe. Hinter einem weißen Mauereck entstehen in 90 Minuten wirkungsvolle Panoramen von kahlen Räumen und opulent düsterer Waldeinsamkeit.

Das Drama des wissenden Kindes

An Wozzecks Hand klebt nach dem Mord an Marie Blut – kein knappes Rinnsal, sondern in ekliger Fülle. Der Geschundene verendet neben der toten Marie in einem Wasserbecken von der Größe eines Sandkastens. Beider Kind bleibt am Ende mit dem letzten gestammelten „Hopp-Hopp“ und dem Mordmesser seiner Eltern zurück. Dieses Kind ist immer am Rand und bekommt alles mit – die Beziehungskrise, den eruptiven Seitensprung Maries mit dem Tambourmajor, die sarkastischen Sticheleien des Hauptmanns mit dem Doktor und alle sexuell-militaristischen Notzüchtigungen der Erwachsenen.

Das Drama des Menschen setzt sich also fort und fort. „Darüberhinaus hat das Kind oft und vergeblich versucht herauszufinden, wie es in einer anderen als der eigenen Personeneinheit aussieht. Das Kind hat diese Versuche eingestellt und weiß jetzt, dass es kein Verständnis gibt.“ schrieb Dea Loher im Impulstext „Die Schere“. Jonathan Bischoff beziehungsweise Julian Keiner sitzen herum, tun fast nichts und erleben das blanke Entsetzen des Alltags mit traumatisierendem Überdruck. Ihre stillen Blicke machen alles noch grausamer.

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Szenenbild aus „Wozzeck“
Szenenbild aus „Wozzeck“

Harte Sozialstudie mit Bayreuth-Tenören

Aber Iven modelliert kein Armutsdrama, sondern setzt auf schmucke Kleider und Uniformen. Aus den hautkontaktig aufgegeilten Wirtshausszenen pulst pralle Gier ohne echte Lust. Andres übergießt sich aus der Bierflasche. Autoritäten sind massiv überzeichnet und trotzdem keine Karikaturen. Hochkarätige Gäste hat man neben dem eindrucksvollen Ensemblebass Michael Tews als Doktor. Torsten Kerl (Tambourmajor) und Arnold Bezuyen (Hauptmann) haben beide mehrjährige Bayreuth-Erfahrung und das schwere Tenorfach auf großen Bühnen durch. Die grotesken Obsessionen, mit denen sie dem in bleierner Ruhe durch seine Miseren trabenden Wozzeck zusetzen, werden durch maliziöse Feinheiten richtig gefährlich. Hier stoßen die beiden Paradetenöre auf den als Andres strahlend und fast zu sympathisch singenden Christian Sturm, vor allem aber auf junge und attraktive Frauenstimmen.

Mit Ania Vegry als Marie vollzieht das Anhaltische Theater eine Besetzungsrevolution wie vor 60 Jahren Karl Böhm mit der lyrischen Evelyn Lear. Vegry beweist, dass eine helle Lulu-Stimme unter guten musikalischen Umständen die meist mit sehr dramatischen Sopran- und Mezzostimmen besetzte Marie bestens meistern kann. Ihre Deutung bleibt in verdeutlichendem Abstand zum Arme-Leute-Absacker. Edel auch Sophia Maeno als mit dieser Partie bereits in Chemnitz erfolgreiche Margret und David Ameln als zum blutroten Lust- und Todesboten erhöhter Narr. Alexander Argirov und Claudius Muth singen die Handwerksburschen an der Spitze eines dank Sebastian Kennerknechts in den Clustern zum „Jäger aus Kurpfalz“ und allen Einwürfen blitzsauber agierenden Opernchors.

Szenenbild aus „Wozzeck“
Szenenbild aus „Wozzeck“

Intensive Achtsamkeit für Bergs Geniestreich

Sorgfalt und Sauberkeit geraten wie zum Brechtschen Verfremdungseffekt – in der Gestaltung von Haltungen, Kostümen, Requisiten und Positionen der Figuren im Raum. Die Miseren des Seins und des Weltenlaufs werden vom insgesamt großartigen Ensemble mit intensiver Achtsamkeit erspielt und ersungen. So gerät Kay Stiefermann als Wozzeck nicht durch Hetze, sondern mit zermürbender Präsenz und gefassten Vokallinien ins Zentrum. Stiefermanns fast somnambule, durch nur wenige Prankenhiebe unterbrochene Durchdringung von Figur und Part ist eine bewundernswerte Leistung.

Weg von den orchestralen Stromstößen, Peitschenschlägen und provokativer Sprödigkeit! Hundert Jahre nach der Uraufführung besinnt man sich bei „Wozzeck“ wie bei Strauss‘ „Elektra“ auf die Konnektivität dieser Geniestreiche zur spätesten Romantik. Markus L. Frank ist am Pult der Anhaltischen Philharmonie in der glücklichen Lage, sich wie ein Mediator „nur“ auf Volumen und Klangrelationen konzentrieren zu müssen. Unter ihm wird es selten richtig laut. Die Instrumentengruppen der Anhaltischen Philharmonie singen, schwelgen und schreien wie in einer exzeptionellen Mahler-Aufführung. Sogar Bergs latente Affinität zur „Götterdämmerung“ blitzt auf. Zum Motto „Farben des Lebens“ des Kurt Weill Fest 2025 steht dieser „Wozzeck“ also in enger Beziehung, nicht aber zu Weills Tonsprache selbst. Da haben Dirigierende in Bergs „Lulu“ weitaus engere Nähe zu Weills „Mahagonny“ herausgemeißelt als Frank in diesem „Wozzeck“. Lange intensiver Jubel. Eine der nur fünf Vorstellungen bis 25. Mai sollte man auf keinen Fall versäumen.

Anhaltisches Theater Dessau
Berg: Wozzeck

Markus L. Frank (Leitung), Christiane Iven (Regie), Guido Petzold (Bühne), Kristina Böcher (Kostüme), Sebastian Kennerknecht (Chor), Dorislava Kuntscheva (Jugendchor), Kristina Baran, Jana Eimer (Kinderchor), Yuri Colossale (Dramaturgie), Kay Stiefermann, Ania Vegry, Arnold Bezuyen, Michael Tews, Torsten Kerl, Sophia Maeno, Christian Sturm, Claudius Muth, Alexander Argirov, David Ameln, Opernchor des Anhaltischen Theaters, Jugendchor des Anhaltischen Theaters, Kinderchor des Anhaltischen Theaters, Anhaltische Philharmonie Dessau




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