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Opern-Kritik: Anhaltisches Theater Dessau – Der Freischütz

Blanke Hysterie im Jagdschlösschen

(Dessau, 26.10.2018) GMD Markus L. Franks musikalisch berückendem Opernwunder steht die enttäuschende Regie von Saskia Kuhlmann gegenüber.

vonRoland H. Dippel,

Gesungen und musiziert wird am Anhaltischen Theater in diesem „Freischütz“ großartig. Man erlebt ein hoch individuelles, ausdrucks- wie charakterstarkes Solisten-Ensemble und den in den hämischen Volksszenen grell hellen, dann später von Sebastian Kennerknecht mit dem Extrachor klangsatt verschmolzenen Opernchor. Die Anhaltische Philharmonie hat Glanz und Schattierungen für diese wunderbare romantische Oper, spielt mit voller Inbrunst und sonor, am Anfang volksmusikhaft kantig und deshalb bis zum Schluss in genau der richtigen Balance, weil es weder zu opulent noch zu filigran wird.

Eine ganz große Stunde auch von GMD Markus L. Frank, der Carl Maria von Webers Partitur mit ihren Wald-, Seelen- und Jubeltöne zum Blühen und Pulsieren bringt. Die Fragezeichen, die von Weber seinem berühmtesten Werk eingeschrieben hat, hört man unbefangen und vergisst bei der vitalen Feier ihrer vielen Hits inklusive „Jungfernkranz“ und „Jägerchor“ keine Sekunde die Unwiederholbarkeit dieser Oper, die nach heutigen Genredefinitionen ein Musical ist: In ihrer Adaption der Sagen-Novelle aus Apels „Gespensterbuch“ nutzten Weber und sein Textdichter Friedrich Kind alle passenden Trendmuster und Szenetypen, die das Publikum um 1820 liebte.

Saskia Kuhlmann hat das in ihrer Inszenierung sehr wohl bemerkt, aber enttäuschend verharmlost. Letztlich hatte sie Angst vor zupackender Nutzung des Bühnenbilds und im Umgang mit den intensiven Solisten, die alle dem hohen Anspruch der Gesangspartien und deren schwierigen Charakteren perfekt entsprechen.

Große Posen, wenig Inhalt

Szenenbild aus "Der Freischütz"
Der Freischütz/Anhaltisches Theater Dessau: constranze Wilhelm (Samiel), Ulf Paulsen (Kaspar) und Opernchor © Claudia Heysel

Rote Haarpracht und roten Samt trägt Samiel. Hier ist der Böse also eine Frau und noch dazu eine, als die Constanze Wilhelm ihre wenigen Sätze in der szenisch enttäuschend matten Wolfsschlucht-Szene nur hauchend rumort. Schon zu Beginn des zweiten Aktes werden die schönen Wald-Fototapeten Dietrich Von Grebmers monoton, und nach Kaspars Kugelsegen rast das Wilde Heer in Videosequenzen über den Portalschleier. Die Stimmen von Kaspar, Max und der Geister kommen also aus dem Nichts, das der bedingungslosen Kapitulation vor einer der spannendsten Opernszenen überhaupt gleichkommt.

Die Holzwände am scheunenartigen Aufbau des Einheitsbühnenbildes geben den Blick frei auf eine Szenerie, bei der die Sinnsuche, warum das zwischen Restauration und Wilhelminismus spielen muss, zwecklos wird. So etwa stellte man sich bis vor wenigen Jahren auf kleineren italienischen Opernbühnen das romantisch-historistische Deutschland vor: Sehr dekorativ bleibt das Gefährlich-Gefährdende, um das es im „Freischütz“ fast jeden Takt und in jedem Satz geht, auch durch Katja Schröpfers Kostüme im kosmetischen Häppchenformat, fett- und geschmacksreduziert.

Gefährliche Musik

Szenenbild aus "Der Freischütz"
Der Freischütz/Anhaltisches Theater Dessau: Ray M. Wade, Jr. (Max) und Ulf Paulsen (Kaspar) © Claudia Heysel

„Gib mir noch von den ‚Glückskugeln‘“ fleht der riesengroße Max zum gruftigen Kaspar, der mit Langhaar und Leder aussieht, als würde er als Halbstarker den gerade ein bisschen schwächelnden Klassenstreber ins erste Drogenabenteuer schubsen.Im Originaltextbuch heißt die Zauber-Munition „Freikugeln“, deren letzte der Teufel auf das Opfer seiner Wahl lenkt. Aber hier organisiert Kaspar selbst die Steinadler-Koryphäe. Er wird am Ende nicht tödlich getroffen und folgt dem weiblichen Samiel im diabolisch blauen Licht einfach in ein wohl eher langweiliges Jenseits. Deshalb hat der dem Freischütz Max die Bewährung ermöglichende und dabei gleichfalls großartig singende Eremit (Don Lee) kein böses Gegenüber.

Bis zum Schluss bleiben der drängende Dualismus zwischen Gut und Böse, der fatalistische Glaube und die Zweifel, in denen sich die Figuren verstricken, allzu schwach. Die Gefahren hört man nur aus der Musik – und es ist unverständlich, dass diese musikalische Energie auf der Bühne keine Entsprechung finden darf.

Ein Traum-Ensemble für den Freischütz

Die Sänger nehmen sich ihre Freiräume mit vitalem, dabei immer angemessenem Stilgefühl. Cornelia Marschall wird von der quecksilbrigen Muntermacherin Ännchen zur Aufsicht für eine zwischen Manie und Depression schwankende, in ihrer Phantasiewelt lebenden Agathe. Ihre Soli vom „Schlanken Bursch“ und „Nero, dem Kettenhund“ verraten viel mehr über Agathe als über Ännchen selbst. Die Frauen sind stimmlich einander fast ähnlich: Cornelia Marschall mit ihren Richtung jugendlich-dramatisches Fach weisenden Krafttönen und Iordanka Derilova, die Agathe aus dem Jungfernstübchen herausholt und als Psychiatrie-Studie zum Lodern bringt.

Szenenbild aus "Der Freischütz"
Der Freischütz/Anhaltisches Theater Dessau: Iordanka Derilova (Agathe) und Cornelia Marschall (Ännchen) © Claudia Heysel

Hier steht die oft so prüde Zweiflerin zu ihrem Max und ist, damit auf gleicher Stufe mit der besessenen Salon-Primadonna Antonia aus „Hoffmanns Erzählungen“, eine echte Heroine unterm Herrgottswinkel, selbst wenn sie keine weißen Rosen vom Eremit bekommt. Bewundernswert: Iordanka Derilova findet nach vielen Extrempartien wie Brünnhilde und Lady Macbeth von Mzensk zu einer unaufgesetzten Lyrik, einer profunden Rundung und einem Rollenverständnis, das alle Vorurteile, diese Partie sei larmoyant, mit Nachdruck verstummen lässt.

Wenn sie nach der „stillen Weise“ von der Regie zu Primadonnengesten gezwungen wird und dieses Singen als erotisch-wahnhafte Ersatzhandlung ausagiert, kommen natürlich die bewunderungswürdig mächtigen Töne. Aber immer nur genau so viele, wie der Komponist für statthaft hält. Was echter, ungekünstelter Belcanto sein kann, hört man von Iordanka Derilova in der „Wolken“-Kavatine und in ihren zutiefst bewegenden Kantilenen des Finales.

Der Max des Amerikaners Ray M. Wade, Jr ist eine ebenbürtige Überraschung, weil er die sängerisch und dramaturgisch gefürchtete Partie fast ausschließlich mit musikalischen Mitteln souverän bewältigt. Er hat Herzlichkeit und Sympathie, die am Ende sogar durch deren Parallel-Innenwelt ans Herz Agathes greift. Ulf Paulsen dagegen: Jeder Ton ein ganzer Kerl und von einer vokalen Gefährlichkeit, wie sie ihm die Regie vorenthält.

Eisig schneidend in den Skalen der „Schweig“-Arie, mit vorsätzlich bellenden und gefährlich verführerischen Tönen gewinnt er aus Webers gewagten Harmonieverbindungen hörbare Bedrohlichkeit. Eine Bedrohung, durch die das in Dessau nur von den Stimmen und vom Orchester ausgetragene Drama bezwingende Spannung gewinnt. Wieder einmal erleben Besucher des Anhaltischen Theaters ein musikalisch berückendes Opernwunder.

Szenenbild aus "Der Freischütz"
Der Freischütz/Anhaltisches Theater Dessau: Cornelia Marschall (Ännchen) und Herren des Opernchors © Claudia Heysel

Anhaltisches Theater Dessau
Weber: Der Freischütz

Markus L. Frank (Leitung), Saskia Kuhlmann (Regie), Dietrich Von Grebmer (Bühne), Katja Schröpfer (Kostüme), Sebastian Kennerknecht (Chor), Ray M. Wade, Jr. (Max), Iordanka Derilova (Agathe), Ulf Paulsen (Kaspar), Cornelia Marschall (Ännchen), Don Lee (Eremit), Kostadin Arguirov (Ottokar), Cezary Rotkiewicz (Kuno), David Ameln (Kilian), Opernchor und Extrachor des Anhaltischen Theaters Dessau, Anhaltische Philharmonie Dessau

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