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Opern-Kritik: Anhaltisches Theater Dessau – König Roger

Sizilianische Sinnkrisen

(Dessau, 2.3.2024) „Król Roger“ ist Karol Szymanowskis Hauptwerk und auch für westliche Bühnen eine zwar seltene, aber regelmäßige Leistungsschau. Das Anhaltische Theater besteht sie glänzend – und dies nur kurz nach Richard Wagners „Tristan und Isolde“.

vonRoland H. Dippel,

„König Roger“ gehört zu den Opern mit einem außergewöhnlichen Ruf: Das Weltanschauungsmusikdrama dauert mit 80 Minuten nur so lang wie der Akt einer Wagner-Oper und beinhaltet trotzdem nicht weniger als die spirituelle Transformation einer reifen Zivilisation. Der Mythos des am 19. Juni 1926 im Warscheuer Teatr Wielki uraufgeführten Oper beruht auch auf der bipolaren Sinn-Schichtung ihrer Handlung. Das Werk ist Resultat eines vom Komponisten mit Hilfe des Textdichters Jaroslaw Iwaszkiewicz auf Librettokürze geschrumpften Bildungsanspruchs nach östlichen, hellenischen und christlichen Geistesquellen. Andererseits spiegelt es in metaphorischer Verbrämung die Auseinandersetzung des späteren Direktors des Warschauer Musikkonservatoriums, der 1937 im Alter von nur 55 Jahren an Tuberkulose verstarb, mit seiner sozialen und sexuellen Identität. „Król Roger“ ist Szymanowskis Hauptwerk und auch für westliche Bühnen eine zwar seltene, aber regelmäßige Leistungsschau. Am Nationaltheater Kosice gibt es eine Inszenierung, welche als biographische Phantasie Szymanowskis kurze, aber intensive Beziehung zu Boris Kochno und damit den Konflikt des Komponisten zwischen Konvention und Neigung darstellte.

Allgemeingültig

Anders als Ballettdirektor Stefano Giannetti im Anhaltischen Theater, dessen imposantes Raumvolumen für Szymanowskis wie die vorherige Neuinszenierung von Wagners „Tristan und Isolde“ das ideale Ambiente abgibt. Schon die direkte Folge zweier derart aufwändiger Stückpremieren beweist den hohen Anspruch und das mit intensivem Applaus bestätigte Leistungsvermögen des Hauses. Die drei Hauptpartien in „König Roger“ sind nicht sonderlich umfangreich, aber kraftzehrend. Der wichtigste Protagonist bei dieser Glaubens- und Politikwende in einem mittelalterlich-symbolischen Sizilien ist das üppige Orchester. König Roger kann den Einflussverlust der christlichen Kirche nicht verhindern. Die Massen brechen aus den straffen Hierarchien eines repressiven Systems aus, als ein charismatischer Hirte sensitive und sinnliche Selbstbefreiung predigt. Sogar Rogers Frau Roxane entdeckt neuen Lebenssinn in den Glücksversprechungen des Hirten. Nur der arabische Gelehrte Edrisi bleibt bei Roger, der in der Einsamkeit eine erfüllende Möglichkeit des Seins entdeckt.

Jagna Rotkiewicz, Caleb Yoo und Christian Sturm in Szymanowskis „König Roger“ am Anhaltischen Theater Dessau
Jagna Rotkiewicz, Caleb Yoo und Christian Sturm in Szymanowskis „König Roger“ am Anhaltischen Theater Dessau

Schwarz – Blau – Gold

Für Giannetti ist es die zweite Dessauer Regie-, Chor- und Choreographie-Kolossalarbeit. Diesmal gelingt ihm die Vermengung der Chor- und Tanzensembles nicht ganz so schmiegsam wie in „Ritus“ auf Rossinis „Petite Messe Solennelle“. Chor und Kinderchor stecken in schwarzen Anzügen, fast wie Arbeitsmassen. Das Ballett mit wenig Stoff steht dagegen für jenes kollektive Verzücken, das die mit dicken Stoffen abgeschirmte Königs- und Kirchenführungsspitze nur zu deutlich verhindern will. Giannetti forderte von Judith Fischer klare Kostümfarben: Nachtblau für die grauen Mächte von Kirche und Königtum, Sonnengelb für die erwachende Sinnlichkeit und Goldglanz für den Verführer an der Schnittstelle zwischen dem fürsorglichen Hirten aus dem Gleichnis des neuen Testaments und einem dionysischen Showstar. Klare Kontraste also vor Guido Petzolds Rundhorizont mit archaisierendem Mauerwerk. Im dritten Akt erfolgt Rogers Selbstbefreiung auf einer Erdfläche unter Scheinwerfer-Firmament. Alles klar gegliedert – fast wie im anthroposophischen Theater am Goetheanum.

Geometrische Glätte

Es ist legitim, dass hier ein pansexuelles, nicht ein homosexuelles Comingout ausagiert und abgehandelt werden soll. Roger und Roxane sind zu Beginn durch die Riesenbreite der Dessauer Bühne getrennt. Zwischen ihnen leitet Sebastian Kennerknecht den Opernchor klangstark wie differenziert durch Szymanowskis impressionistisch filigrane bis monumentale Klangzaubereien mit vielen Zitaten aus byzantinischen Hymnen. Die Klang- und Bewegungsgruppen staffelt und steuert Giannetti korrekt. Anarchische Vermischungen des Volkskörpers und des Laszivität mit gymnastischer Symmetrie demonstrierenden Ballett-Fremdkörpers sind nicht zu befürchten. Wenn das Ballett kommt, ist der Kinderchor, in der Einstudierung Dorislava Kuntschevas, ein weiteres Aushängeschild des Anhaltischen Theaters, weg. Giannettis Szenenarbeit setzt auf geometrische Entschärfung der rätselhaften Winkelzüge und erotischen Andeutungen. Giannetti ist nicht dionysisch, sondern fast calvinistisch. Demzufolge wirkt die Auflösung der Ordnung wie eine Beach-Party für Pauschalreisende. Absicht? Die intensivste physische Intensität Nähe entsteht nicht im magischen Umfeld des Hirten, sondern zu den geistig hochprozentigen Dialogen Rogers mit Edrisi.

Alexander Geller und Ania Vegry in Szymanowskis „König Roger“ am Anhaltischen Theater Dessau
Alexander Geller und Ania Vegry in Szymanowskis „König Roger“ am Anhaltischen Theater Dessau

Lob der Einsamkeit

Wahrscheinlich war die Ehe zwischen Roger und Roxane schon immer weiß. Fast somnambul bewegt sich Ania Vegry durch ihre Partie, wobei – zugegeben – Szymanowski der zentralen Frauenfigur nur wenig dramatisches Konfliktmaterial gab. Vegry folgt der Tradition lyrischer Besetzungen für diese fast spröde Partie, sie singt makellos und damit unangreifbar. Alexander Geller hat als Hirt die gleißenden Momente. Er nimmt diese mit kräftiger Verve und besticht mehr im Grellen als durch sanfte Magie. Caleb Yoo und Jagna Rotkiewicz sind kraftvolle, mit dem Einfluss der Kirche entschwindende Episodenfiguren. Der Tenor Christian Sturm ist gegen die Tradition ein Edrisi mit fast heldischem Tenor, wächst vom Stichwortgeber zum substanziellen Gegenüber Rogers und sticht stellenweise sogar den charismatischen Hirten aus.


Imponierend fragwürdig

Nach dem Gyges in „König Kandaules“ bedeutet Roger für Kay Stiefermann eine weitere Paradepartie. Dieser König wächst an der Krise und an der dramatischen Deklamation, auch weil der Liedkomponist Szymanowski in seiner Oper mit Melodien sehr zurückhaltend war und die wenigen fast immer ins Orchester legte. Stiefermann schlägt aus diesen Melos-Lücken packendes Kapital und zeigt damit, dass es in seiner Partie kaum Antworten, sondern nur immer wieder neue Fragen gibt. Deshalb – und im Sinne Szymanowskis – verkörpert Stiefermann mit prachtvoller Stimme und subtiler Darstellung die Brüche nicht nur des Herrschers, sondern auch die ethischen Bürden einer ganzen Hochkultur.

Alexander Geller und das Ballettensemble des Anhaltischen Theaters in Szymanowskis „König Roger“ am Anhaltischen Theater Dessau
Alexander Geller und das Ballettensemble des Anhaltischen Theaters in Szymanowskis „König Roger“ am Anhaltischen Theater Dessau

Elisa Gogou gliedert Szymanowskis komplizierte Partitur durch klare Schneisen im vielstimmigen Satz, kultiviert punktuelles Leuchten und homogene Klänge von den Sakralgesängen des Beginns bis zur transparenten Apotheose. Die Anhaltische Philharmonie zeigt sich an diesem Premierenabend im Rahmen des Kurt Weill Fest 2024 mit erstklassiger Opulenz. Zu dessen Motto „Leuchten im Schatten“, das den Frauen um Weill, Brecht und Gustav Mahler gewidmet ist, passt auch Roxane, der in Giannettis Inszenierung ein harmonisches, wenn auch etwas beiläufiges Frühlingserwachen zuteil wird.

Anhaltisches Theater Dessau im Rahmen des Kurt Weill Fests
Szymanowski: König Roger

Elisa Gogou (Leitung), Stefano Giannetti (Regie und Choreografie), Guido Petzold (Bühne und Licht), Judith Fischer (Kostüme), Sebastian Kennerknecht (Leitung Opernchor), Dorislava Kuntscheva (Leitung Kinderchor), Yuri Colossale (Dramaturgie), Kay Stiefermann, Ania Vegry, Christian Sturm, Alexander Geller, Caleb Yoo, Jagna Rotkiewicz, Opernchor des Anhaltischen Theaters Dessau, Ballett des Anhaltischen Theaters Dessau, Kinderchor des Anhaltischen Theaters, Anhaltische Philharmonie Dessau

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