Musik von Johann Sebastian Bach ist in Leipzig ein Heimspiel. Nicht nur, wenn sie mit heiligem Ernst in der Thomaskirche im gedachten Kontext ihrer Entstehung zelebriert wird. Sondern auch wenn eine seiner Kompositionen die Grundlage für ein neues Ballett von Mario Schröder in der Oper liefert. Für den Leipziger Ballettchef ist es nach der „Johannes-Passion“ die zweite Arbeit, die von der Musik des Thomaskantors inspiriert ist. Auch nach der jüngsten „Magnificat“-Premiere gingen seine Fans ohne viel Abwarten gleich zu stehenden Ovationen und lautem Jubel über. Und dies mit Recht, denn Schröders neue Kreation und seine Truppe können sich wie immer sehen lassen.
„Magnificat“ und „Stabat mater“ – Marias Lobpreis und Marias Klagelied
Hören sowieso, denn unter Leitung von Christoph Gedschold saßen die Musiker des Gewandhausorchesters natürlich leibhaftig im Graben. Dazu der Chor und Kinderchor und als Solisten Steffi Lehmann und Susanne Krumbiegel (beide Sopran), Marie Henriette Reinhold (Alt), Martin Petzold (Tenor) und Dirk Schmidt (Bass) – für die Sänger war diese Positionierung zwar nicht so ideal, dennoch überzeugten auch sie im Ganzen. Im Zentrum: Vater Bachs (1685-1750) „Magnificat“ und das „Stabat mater“ aus dem Todesjahr von Bachs jung verstorbenem italienischen Zeitgenossen Giovanni Battista Pergolesi (1710-1736).
Dialog der Kulturen – Bach und Pergolesi treffen auf die Band Indigo Masala
Paul Zoller hat den Raum mit beweglichen Gerüsttürmen begrenzt. Im Zentrum ein Laufrad, das an Leonardo da Vincis vitruvianischen Menschen erinnert. Die Gerüste verschwinden immer mal hinter Vorhängen. Dieser Raum entfaltet vor allem durch die atmosphärische Beleuchtung von Michael Röger von Anfang sein eigenes Charisma. Das musikalisch Überraschende: In den Türmen steuern drei Musiker von der Band Indigo Masala den allemal indisch klingenden Teil in einem übergreifenden Dialog über die Zeiten und Kulturen hinweg bei. Auch wenn das manchmal nach dem klingt, was man hierzulande für den typischen Bollywood-Sound hält, funktioniert es doch als Teil eines Gesamtkunstwerkes.
Gespannte Abstraktion
Schröder hat für die einhundert pausenlosen Minuten mehr als 30 einzelne Szenen choreographiert, die sich in all ihrem Wechsel von Soli, Paar- und Ensembleformationen zu einem Ganzen fügen. In der Dramaturgie von Thilo Reinhardt nicht als verkapptes Handlungsballett, sondern in einer Abstraktion, bei der die Spannung zu einem Gutteil aus dem beständigen Wechsel der Leuchtkraft der Musik erwächst. Schröder findet für seine Solisten und das Ensemble immer unmittelbar aus der Musik in die Körper fahrende Bewegungsabläufe und Bilder.
Glaubenszuversicht
Bach vertonte in seinem „Magnificat“ 1723 den Lobgesang Marias, der voll visionärer utopischer Kraft auf eine bessere Welt hofft. Maria preist darin einen Gott, der sich auf die Seite der Armen und Hungernden und gegen die Reichen und Herrschenden stellt. Das ist die Art von appellierender Glaubenszuversicht, auf die sich auch der gegenwärtige Papst recht gut versteht. Doch erst zusammen mit der Klage Marias am Kreuz ihres Sohnes in Pergolesis „Stabat mater“ wird eine Art von ganzer Wahrheit daraus. Eine, die den Tod im Leben nicht ausblendet.
Blick- und Horizonterweiterung
Wenn sich die Tänzer am Ende noch einmal wie zum Abschied umdrehen und stumm ins Publikum blicken, dann liegt von all dem etwas in diesem Blick. Sie geben die Räume und Assoziationen, die sie vertanzt haben, gleichsam an uns weiter – oder zurück. Die Kombination mit der fremden, zwischen Exotik, Kontemplation und einschmeichelnd pointiertem Rhythmus changierenden indischen Musik war dabei eine Blickerweiterung.
Die 12 der 33 Szenen, die Indigo Masala beisteuert, brechen die Ernsthaftigkeit des tänzerischen Nachdenkens nicht, sie beleuchten sie nur anders, erlauben Abstand. Zoller macht die Unterschiede auch in seinen ästhetischen Kostümen sichtbar. Europäisches Weiß im Dialog mit elegantem, raffiniert geschnittenem Grau. Hier wirken die bewegten Bilder oft wie vom Zusammenspiel von Pflanzen und Wind inspiriert. Da wird das Auftauchen von Ravi Srinivasan mit seinen Percussions auf der Szene zu einer Floßfahrt auf einem endlosen metaphorischen Strom der Zeit.
Ein Mario-Schröder-Abend, der sich lohnt!
Die Solisten und das ganze Ensemble begeistern vor allem, wenn sie die verschiedenen Musiksprachen mit ihrem ganzen Körper sichtbar werden lassen. Nicht in einem Wettbewerb um das höchste denkbare Maß von Synchronität. Aber mit dem unbedingten Willen und der Fähigkeit zu berührendem Ausdruck. Wieder ein Mario-Schröder-Abend in Leipzig, der sich lohnt!
Oper Leipzig
Schröder: Magnificat
Christoph Gedschold (Leitung), Mario Schröder (Choreografie), Paul Zoller (Bühne & Kostüme), Steffi Lehmann & Susanne Krumbiegel (Sopran), Marie Henriette Reinhold (Alt), Martin Petzold (Tenor), Dirk Schmidt (Bass), Leipziger Ballett, Chor und Kinderchor der Oper Leipzig, Gewandhausorchester
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