Hoch wogt der Applaus und übertönt trotzdem nicht den konditionsstarken Buh-Rufer vom Rang. Denn ein Teil der Besucher im etwa zu 25% besetzten Saal des Opernhauses am Augustusplatz rührt keine Hand. Die choreografische Uraufführung von Mario Schröders „Solitude“ an der Oper Leipzig stellt unbequeme Rätsel und löst diese nicht. Woran liegt es? An seiner etwas kantigen und kühlen Bewegungssprache, die sogar ein herziges Sujet wie „Die Märchen der Gebrüder Grimm“ einfriert? An einer Dramaturgie, die in Orientierung an des Choreografen Favorit-Musikstücken Spannungserwartungen brechen will oder am großen Abstand zwischen Saal und Bühne?
Schauplatz Einsamkeit
Wenn sich Paul Zollers bühnenbreites Gitterquadrat zuerst über den zusammengeballten Körpern hebt und am Ende fast so langsam wie Edgar Allan Poes Mörderpendel über der Blutgrube mit dem Opfer niedersinkt, ist das kein Auftakt zu einem freudig erregten „Wir sind wieder da!“. Das kultivierte und als Ensemble nícht sonderlich persönlichkeitsstarke Leipziger Ballett beginnt die künstlerische Metamorphose seiner Corona-Depression mit stoischer Mimik. Sofern zu erkennen: Die enganliegenden und transparenten Tänzertrikots changieren wie das Licht zwischen Silber und Anthrazit. Das Leipziger Ballett bekennt also erst Farbe, wenn beim Schlussvorhang die Tänzergesichter endlich erkennbar sind. Man zeigt knitteriges Alltagsgrau, kein Sonntagslächeln: L’espace Solitude – Einsamkeit wird vom Zustand zum Schauplatz. Im Bühnenraum ist man zu 32st nicht weniger allein, sondern sogar noch viel alleiner.
Durch Selbstmitleid wissend
So eng wie die Kompanie zusammenklumpt, wird hinter der Bühne vielgetestet. Im von der Dramaturgin Anna Diepold mitgesteuerten Konzept meint „Solitude“ die Frustrationen in digitalen Sozietäten auf der Suche nach der verschwindenden Körperlichkeit. Immer wieder schleicht sich das fahle Gespenst des exhibitionistischen Selbstmitleids in die Gedanken über Kommunizieren und Choreografieren. Einsamkeit bzw. Alleinsein soll man erkennen in den parallelen Schrittfolgen der Gruppenszenen, die über weite Partien wirken, als seien sie in Videokonferenzen zwischen Tänzerwohnungen und Chefstudio entwickelt worden. Ein aussagekräftiges Emotionsornament gibt es, wenn eine Tänzerin am Seitenportal kauert. Verschenkt also die Tutti-Reihe mit kurzen Soli zur Arie „Schlummert ein, ihr matten Augen“ aus der Kantate „Ich habe genug“. Dabei meint Bachs Schöpfung seraphisch milde Entspannung. Drei Pas de deux und ein Solo (Alessandro Repellini) hätten auch im Kontext anderer Sujets guten Eindruck gemacht. Auffallend ist bei Mario Schröder, dessen Schwester Silvana in ihren Choreografien für das Thüringer Staatsballett einen aufregenden Kosmos von Diversitäten und exzessiven Lebensentwürfen spiegelt, die äußerst klare Vorstellung über geschlechtliche Rollenmuster. Das Herrenpaar (Marcus Vinicius Da Silva, David Iglesias Gonzalez) springt wie Geistesblitze nach oben. Die beiden Frauen (Madoka Ishikawa, VivianWang) haben, manchmal auf allen Vieren, eindeutig mehr Bodenhaftung. Beim heteronormativen Duo sind die Aufgaben von Heben und Gehobenwerden auf Diana Sandu und Carl von Godtsenhoven verteilt, als hätte es im Tanz nie eine Hinterfragung geschlechtlicher Stereotypen gegeben. Zu Beginn legen alle ihren Atemschutz ab und schlagen später mit den Armen wie Vögel mit den Flügeln. Dabei ist in diesem sterilen Ambiente die Sehnsucht nach dem haptischen, physischen, pulsierenden Berühren fast überwunden. Schön aseptisch.
Passionsmusiken
Wie im Showbiz üblich, sieht man ein Soloquintett der Musiker zu Galina Ustwolskajas Sinfonie Nr. 5 „Amen“ auf der Bühne. Zu diesen kunstvoll spröden Klängen senkt sich langsam das Gitter und sucht damit eine visuelle Entsprechung zu Ustwolskajas mysteriös-esoterischer Solitude. Das an Planstellen reichste Orchester Deutschlands hatte zwischen den selbst veranstalteten „Großen Concerten“ und den für das Festival „Wagner 22“ folgenreichen Umschichtungen nicht ganz die für Tanz nötige Interaktionsenergie. Felix Bender, der in Chemnitz zusammen mit Guillermo García Calvo einen weithin akklamierten „Ring“ herausgebracht hatte, übernahm verhältnismäßig kurzfristig die musikalische Leitung von Generalintendant Ulf Schirmer. Petteris Vasks‘ Dissonanzen in „Musica Dolorosa“ sind derart meisterhaft dynamisiert, dass sie ohne geschärfte Einstudierung fast noch mehr Eindruck machen. Yuriy Mynenko singt Vivaldis „Stabat mater“ suggestiv und verdreifacht damit den musikalischen Abstand zwischen dem venezianischen Priesterkomponisten und dem Gewandhausorchester, welches zu ersterem noch keine stärkere Herzensbindung erkennen lässt. So erweist sich das Corona-Comeback des Leipziger Balletts als Diagnose durch Bewegung: „Solitude“ definiert Mangelerscheinungen, an denen niemand leiden will. Elektrisierenden wie enervierenden Klarblick zeigen Mario Schröder und das Leipziger Ballett, indem sie diesen Missstand transparent machen. Jetzt weiß man auch das: Neben dem physischen fehlt noch ein psychisches Hygienekonzept.
Oper Leipzig
Mario Schröder: Solitude
Felix Bender (Leitung), Mario Schröder (Choreografie), Paul Zoller (Bühne & Kostüme), Anna Diepold (Dramaturgie), Yuriy Mynenk (Countertenor), Leipziger Ballett. Gewandhausorchester