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Ballett-Kritik: Hamburgische Staatsoper – Epilog

Von der Unschuld des Alters

(Hamburg, 30.6.2024) Altersweise wagt sich John Neumeier zum Abschluss seiner Ära als Chef des nach ihm benannten Hamburg Ballett an die kleinen Formen von Schuberts Klaviermusik. „Epilog“ hat nicht den Anspruch an ein letztes Meisterwerk, es wirkt wie mit leichter Hand gezeichnet.

vonPeter Krause,

Die großen Dramen unseres Daseins sind eigentlich alle erzählt. „Romeo und Julia“, „Die Kameliendame“, „Peer Gynt” und „Anna Karenina” gehören dazu, sogar eine Kurzfassung von „Tristan und Isolde“. Doch nicht nur die Weltliteratur hat John Neumeier als Handlungsballette kongenial und klug in seine Sphäre des Tanzes übersetzt, auch die „Matthäus-Passion“ als Zentralwerk der christlichen Verkündigung und die Sinfonien von Gustav Mahler als höchst persönliche wie philosophisch ausgreifende Bekenntniswerke ihres musikalischen Schöpfers.

Damit hat der Amerikaner in Hamburg Tanzgeschichte geschrieben und bleibende Meisterwerke ersonnen. Nur: Wie kann eine letzte Kreation für seine wunderbare junge Hamburger Compagnie aussehen? Bevor John Neumeier dann die Verantwortung an seinen Nachfolger Demis Volpi abgibt, der ab der Saison 2024/25 dem Hamburg Ballett vorsteht? Neumeiers vorletzte Neuschöpfung Ende 2022 hinterließ ja noch Fragezeichen: „Dona nobis pacem“ als choreografische Anverwandlung von Bachs h-Moll-Messe als dann doch noch einmal ausdrücklich groß gedachter Konzeption verhedderte sich im Angesicht des realen Krieges zwischen Konkretisierung und Kitsch.

Szenenbild zu „Epilog“
Szenenbild zu „Epilog“

Wenn der Königsweg in der Zurücknahme und der Stille liegt

Der Königsweg, der zur Rundung seiner unglaubliche 51 Jahre andauernden Hamburger Ära mit diesem „Epilog“ führt, konnte nur in der Zurücknahme liegen. Und so entschied sich John Neumeier denn auch zur radikalen Reduktion, die zu Beginn des Abends so sichtbar wie hörbar ist. Ein Steinway-Flügel und ein umgekippter Stuhl zieren die breite Bühne der Hamburgischen Staatsoper. Sonst nichts. Und: Es herrscht noch Stille. David Fray hat am Flügel Platz genommen, ihm aber noch keinen Ton entlockt. Es wird die schmucklose Rückwand eines fahrbaren Bühnenelements sichtbar, aus dessen Tür ein junger Mann tritt. Ein Video (Kiran West) zoomt die Bewegungen des Tänzers Caspar Sasse an uns heran, der den Stuhl aufhebt und gen Bühnenhimmel reckt.

Wagt Neumeier hier den Schritt ins zeitgenössische Tanztheater, in dem der klassische Tanz nur noch zitierte Zutat ist? Fray intoniert den zweiten Satz, das Allegretto, aus Franz Schuberts „Drei Klavierstücke“ D 946 mit behutsamer Poesie und Eleganz. „The Dangling Conversation“ von Simon & Garfunkel unterbricht das Klavierspiel. Eine schlichte Szene des Alltags am Esstisch wird hinten sichtbar. Freunde haben sich verabredet, begegnen sich im harmonischen Miteinander zu Hause. Die Exposition des Abends führt uns in die kleine heile Welt des Privaten, gleichsam der Gegenseite des Öffentlichen, eine apolitische Welt des Dahinter. Man meint, mitunter eine spätmoderne Biedermeierlichkeit zu erkennen, Gesten des Rückzugs.

Szenenbild zu „Epilog“
Szenenbild zu „Epilog“

Mehr hingebungsvolle Freundschaft als hoch gespannter Eros

Franz Schuberts späte Klaviersonate B-Dur D 960 spielt David Fray dann mit französischem Feinsinn und zart nuancierter Pianokultur, in den Bässen allerdings auch etwas zahnlos und ohne die der Musik eingeschriebenen Abgründe, gelten die letzten Sonaten doch als Vermächtnis des Wieners und seien, so Robert Schumann, „vom Gedanken des nahen Scheidens erfüllt“.

Unterbrochen wird Schubert wiederum von „The Sound of Silence“ von Simon & Garfunkel. Ja, just der Klang der Stille könnte zum Motto dieses Balletts werden. Was John Neumeier dann mit scheinbar leichter Hand entwickelt und vielfach variiert (die tänzerischen Mittel, Schrittfolgen und Hebungen zeigen dabei, wie sehr Neumeier sich selbst ästhetisch und handwerklich treu bleibt), sind häufig wechselnde Paarkonstellationen, in denen weit mehr hingebungsvolle Freundschaft als hoch gespannter Eros gezeigt wird. Da herrscht die Unschuld der ersten Liebe, der spielerische, ja verspielte Ernst allgemeiner Menschlichkeit.

Szenenbild zu „Epilog“
Szenenbild zu „Epilog“

Die Beziehungen wirken so selbstverständlich und natürlich. Die großen Dramen scheinen aus dieser Gemeinschaft entschwunden. Schön und berührend wirkt dabei die unmittelbare Nähe von Musik und Tanz, das Hervorbringen der Töne und die dazu gefundenen Bewegungen ergeben sich ganz einfach, finden einander im gemeinsamen Geist der Intimität.

Die Innigkeit zwischen Musik und Tanz

Dann, in Franz Schuberts Fantasie f-Moll D 940, zu dem sich Emmanuel Christien zum vierhändigen Klavierspiel neben David Fray setzt, fragt man sich freilich auch, ob nicht die dezidiert kleinen Formen der Impromptus und Moments musicaux die noch passendere Musikwahl gewesen werden. Denn ein wenig unterlaufen Musik und Tanz doch auch die Tiefen der Kompositionen mit all ihren Umschwüngen ins Düstere der Seele. Der zweite Teil des Abends akzentuiert aber doch noch einen kurzen Moment der Krise. Ein ganzer Knäuel von Stühlen, Tänzerinnen und Tänzern scheint davon zu sprechen, wie wir Menschen doch letztlich gemeinsam allein sind, wie wir vor uns selbst flüchten wollen. Mit „Vier letzte Lieder“ von Richard Strauss wendet John Neumeier diesen „Epilog“ dennoch ins Versöhnliche.

Szenenbild zu „Epilog“
Szenenbild zu „Epilog“

Asmik Grigorian, die grandiose Hamburger Sängerin der Salome, ist dafür an die Staatsoper zurückgekehrt und musiziert gemeinsam mit David Fray die Klavierfassung des Zyklus. Barfuß und im roten Kleid wie einige der Tänzerinnen (die zeitlos edlen Kostüme von Albert Kriemler von A-K-R-I-S akzentuieren die Weiblichkeit der Tänzerinnen weit mehr als sonst bei John Neumeier üblich) fügt sich die Sopranistin mit ihrer grazilen Anmut direkt in das Ensemble ein, sie interagiert, führt die Innigkeit zwischen Musik und Tanz noch einmal auf eine höhere Stufe. Dennoch wirkt die enorme Opernstimme der Grigorian zunächst als fast zu groß für die kammermusikalische Intimität des Abends. So sehr hat man sich bis hierher eingeschwungen auf die sublimen Zwischentöne.

Szenenbild zu „Epilog“
Szenenbild zu „Epilog“

Eine Feier der herrlichen jungen Compagnie

Doch auch hier findet sich alles, nachdem Aleix Martínez im Lied „Beim Schlafengehen“ einen verstörenden wie dramaturgisch willkommenen Kontrapunkt zur Musik verkörpern darf. Ähnlich einem epileptischen Anfall scheint der Tänzer hier vollends auszurasten, will sich ausrasen. Doch Asmik Grigorian hört ihn, und er hört sie in wechselseitiger Empathie. „Wir sind in Not und Freude gegangen Hand in Hand: Vom Wandern ruhen wir beide überm stillen Land“, führen Joseph von Eichendorffs Worte und Richard Strauss’ Töne nun zusammen, was zusammengehört. Leise Töne und feine Gesten des weisen Lächelns eines scheidenden, längst legendären Chefs bestimmen den Abend, der am Ende eben auch eine Feier der herrlichen jungen Compagnie ist.

Hamburgische Staatsoper
Neumeier: Epilog

John Neumeier (Choreographie, Bühnenbild & Licht), Albert Kriemler – A-K-R-I-S (Kostüme), Kiran West ( Video), Asmik Grigorian (Sopran), David Fray & Emmanuel Christien (Klavier), Silvia Azzoni, Alina Cojocaru, Anna Laudere, Ida Praetorius, Madoka Sugai, Jacopo Bellussi, Christopher Evans, Alessandro Frola, Aleix Martínez, Louis Musin, Matias Oberlin, Caspar Sasse, Alexandr Trusch


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