„Betroffenheit mit formaler Bewegtheit“ könnte der Leitsatz des Leipziger Ballettchefs Mario Schröder für diese Tanz-Schöpfung gelautet haben. Nach 80 Minuten ergießt sich zur Premiere in der Oper Leipzig ein Bravo-Hagel auf die dunkle Bühne und die Chormassen.
Nüchterne Andersen-Paraphrase
Am Ende liegen die Menschen auf einem Haufen, und die Pflanze im portalhohen Flaschengarten sieht bis dahin ein bisschen falb aus. Es gibt die eine Frau, die wie „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ in Hans Christians Andersens berühmtem Märchen durch mehrere Visionen-Stationen an dieses Ende kommt. Im Märchen erfriert das Mädchen an der Jahreswende – ganz allein, während die anderen feiern und an den Weihnachtsbäumen die Lichter glänzen.
Es ist egal, ob Späne oder Papier zwischen den Sätzen und Stationen entzündet werden und kurz flackern. Aber bei Andersen stellt sich das Gefühl von Depression, Verzweiflung, sozialer Kälte nach wenigen Sätzen her. Auch Mario Schröder erzählt davon, rückt die Situation vom Einzelschicksal in eine Ritualhandlung – hygienisch einwandfrei und etwas steril.
Haydn mit Hitze – Cooles von Lang
Mit noch größeren Personalmassen als das Leipziger Ballett treten die Chöre an. Der Chor der Oper Leipzig sowie deren Kinder- und Jugendchor stehen hinten und auf Stufen zu beiden Seiten links und rechts des Orchestergrabens. Die Musik dominiert visuell, weil es auf Andreas Auerbachs weitgehend leerer Bühne mit den sich zu einer Hausform in der Höhe zusammenziehenden Stäben nie richtig dunkel wird. Thomas Eitler-de Lint und Gregor Meyer haben ihre Kollektive zu mustergültiger Qualitätshöhe ohne Fehl und Tadel getrimmt.
Die Musik dominiert auch in den Sätzen von Joseph Haydns „Missa in angustiis“ (Nelson-Messe), weil die intimen Momente der Komposition – die gibt es – zu machtvoller Einschüchterungsmonumentalität aufgeblasen sind und sich damit in den Vordergrund der Wahrnehmung schieben. Davon ist im Kyrie-Satz vor allem die Sopranistin Samantha Gaul betroffen, die an einem ungünstigen Platz stand und etwas forcieren musste. Kontemporäre Zusätze liefert zu dem hier wie späteres 19. Jahrhundert klingenden Haydn David Langs mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnetes Opus „The Match Girl Passion“ von 2008: Gläserne Post-Tonalität, von Lang angereichert – wohl entscheidendes Argument zur Leipziger Aufführung – mit Texten aus Johann Sebastian Bachs „Matthäuspassion“.
Lang schreibt professionell und wirkungsvoll für die Solostimmen – ohne Ansteuern der in der Neuen Musik favorisierten Extremlagen. Die Mezzosopranistin Yajie Zhang, der Tenor Sebastian Seibert und der Bass Yorck Felix Speer agieren auf dem Anspruchsniveau des Hauses. Die Hosen und Hemden von Verena Hemmerlein unterstützen Schröders klar modellierte, stellenweise virtuose Choreographie. Das Leipziger Ballett ist auf diese sportive Kühle optimal eingeschworen. Instrumental zeichnet sich der Abend durch routinierten Glanz aus, wie man sich in der Bach-Stadt wohl die „triumphierende Kirche“ katholischerer Breiten vorstellt.
Emotionale Ökonomie und virtuoser Tanz
Am Anfang fallen Projektionen eines Walds mit kahlen Stämmen, fahlem Licht und müden Nebeln auf den Portalschleier. Dann wachsen David Langs Akkorde allmählich vom atmosphärischen Kolorit zu klanglicher Verdichtung. Minutenlang dauert diese atmosphärische Ouvertüre auf stiller Bühne. Schröder lässt sich also Zeit bis zu den ersten Bewegungen seiner Kompanie. Die eigentliche Choreographie beginnt mit dem Anwinkeln von Knien, dann mit dem auch später immer wieder von Schröder bevorzugten Kreisen der Arme nach oben. Es gibt Gelegenheiten zu vielen athletischen Sprüngen. Miltons Monumentalepos lädt die Genesis-Figuren im Garten Eden mit etwas auf, was Adam, Eva und die Schlange, das Prinzip des Bösen, im alttestamentarischen Urtext nicht, in den Apokryphen selten haben: Sie werden zu poetischen Figuren, die das durch den Dualismus von Gut und Böse entstehende Leid und die Sehnsucht nach spiritueller Geborgenheit reflektieren.
Man kann (also) die niederschwelligen Konzeptionspartikel des Abends zu Utopie und Philosophie unangestrengt übersteigen und sich an der sportiven Virtuosität erfreuen, welche ein „Plädoyer für Empathie und Gemeinschaft, Hoffnung und Humanismus als wärmende Visionen“ darstellt. Diese funktionalen Bewegungsfolgen machen Eindruck. Tanz versteht sich in der ersten Sparten-Produktion der Spielzeit mitunter als erstklassiges, aber illustratives Beiwerk zum musikalischen Dominanzstreben.
Oper Leipzig
Schröder: Paradise Lost (nach Musik von Joseph Haydn & David Lang)
Matthias Foremny (Leitung), Mario Schröder (Choreografie), Andreas Auerbach (Bühne), Verena Hemmerlein (Kostüme), Michael Röger (Licht), Thomas Eitler-de Lint / Gregor Meyer (Chor), Sophie Bauer (Kinderchor / Jugendchor), Anna Diepold (Dramaturgie), Samantha Gaul / Olga Jelínková (Sopran), Yajie Zhang / Nora Steuerwald (Alt), Sebastian Seibert (Tenor), Yorck Felix Speer (Bass), Chor der Oper Leipzig, Jugendchor der Oper Leipzig, Leipziger Ballett, Gewandhausorchester