Natürlich wurden nach dem apodiktischen Gebot Adornos auch nach Auschwitz noch Gedichte geschrieben. Sogar Opern über Auschwitz komponiert! So wie der jüdisch polnische Schostakowitsch-Schüler Mieczyslaw Weinberg (1919-1996) es exemplarisch mit „Die Passagierin“ getan hat. Obwohl er auch Stalin nur knapp überlebte, blieb er bis zum Ende seines Lebens in Moskau. Dort vollendete er 1968 seine Auschwitz-Oper. Ihre Uraufführung in Bregenz 2010 erlebte er nicht mehr. Anders als die polnische Autorin Zofia Posmysz (1923-2022), auf deren Erinnerungen das Libretto und die Figur der Marta beruht. Ihr war es hochbetagt vergönnt, bei der Uraufführung und auch bei einigen Nachfolgeinszenierungen in Deutschland dieses Opus um Erinnerung und Schuld durch ihre bloße Anwesenheit zu beglaubigen. Und auch die Darstellung der Hölle von Auschwitz auf der Bühne quasi zu legitimieren.
Auch die Perspektive der Täter muss darstellbar sein
Eine der besonderen Herausforderungen für die Nachgeborenen besteht vor allem darin, dass in dieser Oper die Perspektive der Täter in der Gestalt der SS-Aufseherin Lisa einbezogen wird. Weil die, laut Libretto, in Auschwitz 22- und während der Schiffspassage mit ihrem Mann Walter nach Brasilien 37-jährige Frau nicht ins Monströse überhöht wird, sind die Zuschauer nicht nur mit deren Erinnerung, sondern auch mit der hypothetischen Frage der Nachvollziehbarkeit konfrontiert.
Zusätzliche Zeitebene
Bei der Seereise ans andere Ende der Welt fällt Lisa eine Passagierin auf, die sie an jene Polin Marta erinnert, die sie damals bewusst nicht vor dem Todesblock des Lagers bewahrt hatte. Regisseur Tobias Kratzer und der Chef des Bayerischen Staatsorchesters, Vladimir Jurowski, haben für die erste Neuproduktion der Oper nach dem Tod von Zofia Posmysz für ihre Fassung einige Kürzungen vorgenommen.
Vor allem eine russische Kommunistin schien ihnen dabei nicht mehr opportun. Zugleich haben sie nicht nur eine zusätzliche (stumme) Figur, sondern mit ihr eine weitere Zeitebene hinzugefügt. Beim Blick auf die auf drei Etagen verteilten 15 Kabinen des Luxusliners und die auf Erholung gestimmten Passagiere fällt eine alte Frau auf, die eine Urne mit sich herumschleppt. Diese Frau sieht und hört offensichtlich nicht nur die harmlosen Wohlstandsreisenden, sondern zugleich immer wieder deren mögliche (oder tatsächlichen) früheren Ichs. Es ist die alte Lisa, die bis ins Jahr 2024 überlebt hat. Offensichtlich will sie die Asche ihres mittlerweile verstorbenen Ehemannes Walter zurück in die alte Heimat bringen. Durch diese zweite Seereise wird sie hier von einem neuerlichen Erinnerungsschub so erschüttert, dass sie letzten Endes über Bord geht und ertrinkt. So jedenfalls das Video zum Ende des ersten Teils.
Konsequente Verweigerung jeder Art von Nazi-Insignien oder Lagerinterieur
Entscheidend bleibt in dieser Inszenierung die konsequente Verweigerung jeder Art von Nazi-Insignien oder Lagerinterieur. Mit der Optik seiner Bühne und Kostüme bleibt Ausstatter Rainer Sellmaier auf dem Schiff. Zuerst mit dem Außenblick auf die Kabinen oder auch mal ins Innere. Dann mit den festlich gedeckten Tafeln für ein Dinner im Format eines Staatsempfangs. Hier ergeht es Lisa wie Shakespeares Macbeth in der Bankettszene oder wie der Witwe des jüdischen Professor Schuster, die in Thomas Bernhards „Heldenplatz“ das „Sieg Heil“-Gebrüll ihrer Landsleute beim Anblick Hitlers auf dem Balkon nicht los wird und daran zerbricht.
Ein Gespensterschiff
Es ist gespenstisch, was hier auf dem Schiff passiert. Die ermordeten Männer und vor allem Frauen, die alle aussehen wie jene Marta, der sich Lisa als Aufseherin angenommen hatte und von der sie Dankbarkeit für kleine Vergünstigungen erwartetet. Plötzlich anderthalb Jahrzehnte später sind sie nicht mehr tot. Sie sind im Saal. Und gehen dort auf den üppig gedeckten Tafeln zu Boden, wenn ihre Nummern aus dem Lautsprecher schnarren.
Auch die ehedem Schwarzuniformierten tragen an diesem Abend harmloses Marineweiß oder Abendgarderobe, wenn sie Martas Verlobten, den Musiker Tadeusz, tot prügeln, weil der nicht wie befohlen den Lieblingswalzer des Kommandanten, sondern Bach spielt. Kratzer gelingt es tatsächlich, das Trauma der Täterin deutlich zu machen, ohne sie dabei zu entschuldigen oder zu verdammen. William Faulkners berühmter Satz „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.“ könnte über Kratzers Zugang stehen.
Musikalische Chefsache
Musikalisch liegt die Produktion natürlich als Chefsache in den Händen von Vladimir Jurowski am Pult des Bayerischen Staatsorchesters. Unter seiner Leitung klingt die vom Mentor des Komponisten profitierende, stilistisch vielfältige Musik betont elegisch. Zumindest im ersten Teil. Danach setzt er mehr auf das zupackend Dramatische. Ebenso versteht es sich, dass Serge Dorny für diese zentrale Produktion der laufenden Spielzeit ein exzellentes Protagonistenensemble aufbietet. Herausragend sind dabei vor allem Sophie Koch als Lisa, Elena Tsallagova als Marta und Charles Workman als Walter sowie Jacques Imbrailo als Tadeusz. In München würdigte das Publikum einhellig und angemessen eine Produktion, die immer noch in die Zeit passt. Auch, weil erst Verschweigen wirklich Tod bedeuten würde.
Bayerische Staatsoper München
Weinberg: Die Passagierin
Vladimir Jurowski (Leitung), Tobias Kratzer (Regie), Rainer Sellmaier (Bühne & Kostüme), Michael Bauer (Licht), Jonas Dahl & Manuel Braun, Christoph Heil (Chor), Christopher Warmuth (Dramaturgie), Sibylle Maria Dordel, Sophie Koch, Charles Workman, Elena Tsallagova, Jacques Imbrailo, Daria Proszek, Lotte Betts-Dean, Noa Beinart, Larissa Diadkova, Evgeniya Sotnikova, Bálint Szabó, Roman Chabaranok, Gideon Poppe, Martin Snell, Sophie Wendt, Lukhanyo Bele, Chor der Bayerischen Staatsoper, Bayerisches Staatsorchester