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Opern-Kritik: Bayerische Staatsoper – Le Grand Macabre

Politik provokanter als Sex

(München, 28.6.2024) Das Premierenpublikum von György Ligetis „Le Grand Macabre“ lässt sich an der Bayerischen Staatsoper von Regisseur Krzysztof Warlikowski vorschriftsmäßig provozieren.

vonRoland H. Dippel,

Man sollte eine Kennzahl aufstellen, mit welcher sich die Heftigkeit der Publikumsverstörung in Beziehung zum Uraufführungsjahr von Musiktheater-Werken setzen lässt. Im Fall der Eröffnungspremiere mit „Le Grand Macabre“ bei den Münchner Opernfestspielen ging es um die Jahre der Stockholmer Uraufführung 1978 bzw. die im Nationaltheater gespielte Fassung letzter Hand für die Salzburger Festspiele 1997. Bei dieser Salzburger Vorstellungsserie war György Ligeti auf Regisseur Peter Sellars gar nicht gut zu sprechen. Denn dieser hatte Ligetis einzige Oper als Propagandastück gegen Amerika und die Atomaufrüstung inszeniert und nicht gemäß der Vision des Komponisten als „politisches Stück gegen falsche Propheten“.

Szenenbild aus „Le Grand Macabre“ an der Bayerischen Staatsoper
Szenenbild aus „Le Grand Macabre“ an der Bayerischen Staatsoper

Ligetis „Le Grand Macabre“ hat noch immer Eklat-Potenzial

Gerade das bei insgesamt 110 Spielminuten mit dreiviertel Stunden überdimensionierte dritte der vier Bilder von „Le Grand Macabre“ irritierte in München derart, dass zur Premiere etwa zwanzig Personen das Parkett verließen — spätestens beim Ostinato-Sprechchor als Höhepunkt einer kollektiven Empörung. Der politisch eindringliche Gestus aus Panik und Forderungen provozierte eindeutig mehr als die im Libretto von Ligeti und dem Stockholmer Opernintendanten Michael Meschke mit Drastik ausgedehnten Begegnungen des devoten Astradamors mit der Domina Mascalina und den körperlich Liebenden Amanda und Amando.

Dabei war die Inszenierung des seit „Eugen Onegin“, „Die Frau ohne Schatten“, „Die Gezeichneten“ und „Tristan und Isolde“ an der Bayerischen Staatsoper sehr geschätzten Krzysztof Warlikowski nicht einmal besonders drastisch für die Oper nach Michel de Ghelderodes „Balade du Grand Macabre“. Der nebulöse Nekrotzar verkündet den Tod aller und ein Massensterben im „Breughelland“, aber keine seiner pompösen Ankündigungen tritt ein. Ligetis Ende verschwebt nach burlesker, sarkastischer und artistisch überspitzter Obszönität einfach. War die Todesdrohung real oder ein Alptraum? „Die Figuren, die Sie auf der Bühne sehen, sind also ein wenig Sie selbst“, enden die Dramaturgen Christian Longchamp und Olaf Roth eine ihrer Kurzeinführungen im Programmheft. Nicht zuletzt ist Ligetis bewundernswert geistreiche und dabei anspruchsvolle musikantische Partitur eine höchst eigenwillige Zitat-Anthologie durch die Musikgeschichte mit Offenbachs Cancan-Phrase an prominenter Stelle.

Szenenbild aus „Le Grand Macabre“ an der Bayerischen Staatsoper
Szenenbild aus „Le Grand Macabre“ an der Bayerischen Staatsoper

Blitzsaubere Leistung

Warlikowski und Kent Nagano, der als ehemaliger GMD ans Nationaltheater-Pult zurückkehrt, leisten beide blitzsaubere Serientäter-Arbeit. Das Bayerische Staatsorchester bestätigt dazu seinen Ruf als eines der besten Opernorchester weltweit. Nagano macht alles klar, deutlich und akkurat. Das schafft Transparenz für Ligetis musikalische Strukturen von der berühmten Autohupen-Toccata des Beginns über die Kantilenen-Girlanden bis zum fast lyrischen Schluss. Nagano erleichtert dem insgesamt sehr kantabel bis sogar wohlig agierenden Solisten-Ensemble manches, lässt aber die weniger nekrophile als dionysische Klanglustigkeit Ligetis außen vor. Mit weitaus mehr Feuer assistiert der Maestro suggeritore Volker Perplies und wird so für die Sängerinnen und Sänger zum Sicherheitsfels in Naganos akademisch trockenen Orchesterwellen.

Auch Warlikowskis Regiekonzept setzt auf assoziative und zeichenhafte Stabilität. Das hat den Vorteil, dass das Publikum seinen Phantasien über die Ankunft des Todes im Breughelland und seinen Karikatur-Figuren freien Lauf lassen kann. Ob Ligeti das besser gefallen hätte als die Salzburger Regie von Sellars?

Szenenbild aus „Le Grand Macabre“ an der Bayerischen Staatsoper
Szenenbild aus „Le Grand Macabre“ an der Bayerischen Staatsoper

Die bizarren Figuren sind ein bisschen wie wir selbst

Staatschef Go-Go (John Holiday) wirkt wie ein Flugbegleiter mit sonnigem Gemüt. Der Weltuntergang kündigt sich vom Screen mit apokalyptischen Szenen von der Sandalen-Stummfilmzeit bis Murnaus „Faust“ an. Natürlich dräut ein riesiger „Melancholia“-Planet Richtung Zwergen-Erde. Claude Bardouil unterstützt mit optimierender Bewegungsanleitung den Chor und das glänzende Refugee-Ensemble. Transitstationen wie hier der Multifunktionsraum zwischen Turn- und Wartehalle sind nicht nur in München seit Damiano Michielettos „Aida“-Inszenierung voll im Trend. Małgorzata Szczęśniaks Bühne ist dabei gut anzusehen. Bei den Kostümen zwischen Fetischklamotten, Uniformen und Gammellook zeigt sie immer mit leicht künstlerischer Überhöhung, was ein bisschen modisch ist, eine Genrefestlegung als Mystical, Comedy oder Politsatire aber vorsätzlich meidet. Darin sind sich musikalische Haltung, szenisches Spiel und Dekoration einig: Es bleibt alles so steril, dass die Trockenheit der SM-Spielchen des Ehepaars mit den sprechenden Namen Astradamors (sehr sympathisch: Sam Carl) und Mescalina (Lindsay Ammann) trotz deutlicher Übertitel so ziemlich humorfrei und kaum drastisch vorbeiziehen. Gesungen wird auch hier außerordentlich schön – wie vom mit hellen Fellwesten, langen blonden Haaren und schwarzen Strümpfen ausgestatteten Sex-Pärchen Amanda (Seonwoo Lee) und Amando (Avery Amereau). Falls jemand im Parkett schmunzelte oder lachte, gab es pikierte Blicke. Trotz Fluchttendenzen war der betrachtende Gleichmut des Publikums bemerkenswert.

Szenenbild aus „Le Grand Macabre“ an der Bayerischen Staatsoper
Szenenbild aus „Le Grand Macabre“ an der Bayerischen Staatsoper

Brillante Besetzungen

Größte Anerkennung gebührt den drei Hauptpartien: Sarah Aristidou, der in ihrer jungen Karriere bereits Aribert Reimann und Jörg Widmann Werke auf die Stimme geschrieben hatten, bekam als Chef der Geheimen Politischen Polizei einen großen und als Venus, die der scharfen Mescalina den gut bestückten Nekrotzar als Gespielen zuführt, einen Kabinettstückchen-Auftritt mit Zigarette und Petticoat. An der idealen Schnittstelle von feiner Komödiantik und perfekter Vokalkontur ist Benjamin Bruns als Piet vom Fass, auch im Verhältnis zu Michael Nagys weniger schwarzhumorigem als auch im Latex-Nacktkokon imposantem Nekrotzar. Beide sind fast wie Ligetis Metamorphose von Don Quixote und Sancho Pansa zu einem hier eher leichtgewichtigem Star-Duo vom doch nicht eintretenden Tag des Jüngsten Gerichts.

Die meisten der bis zum Schluss Ausharrenden im fast ausverkauften Nationaltheater zeigten sich begeistert beim nach dem Vorbeugen des Produktionsteams nicht sonderlich ausdauerndem Schlussapplaus. Der pseudo-apokalyptische Opernabend war kein Hindernis für einen hochsommerlich sonnigen Cocktail-Absacker im Portikus. München überleuchtete mühelos diese grundsolide Premiere und deren Glanzmomente.

Bayerische Staatsoper
Ligeti: Le Grand Macabre

Kent Nagano (Leitung), Krzysztof Warlikowski (Regie), Małgorzata Szczęśniak (Bühne & Kostüme), Felice Ross (Licht), Kamil Polak (Video), Claude Bardouil (Choreografie), Christoph Heil (Chor), Christian Longchamp, Olaf Roth (Dramaturgie), Sarah Aristidou, Seonwoo Lee, Avery Amereau, John Holiday, Sam Carl, Lindsay Ammann, Benjamin Bruns, Michael Nagy), Andrew Hamilton, Thomas Mole, Nikita Volkov, Kevin Conners, Bálint Szabó, Isabel Becker, Sabine Heckmann, Saeyong Park, Sang-Eun Shim, Bayerischer Staatsopernchor, Bayerisches Staatsorchester

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