Szenisch war diese „Aida“ sicher die am meisten ambitionierte Produktion dieser großen wie intimen Oper seit Wiedereröffnung des Nationaltheaters 1963. Franco Enriquez (1979), David Pountney (1996), Christoph Nel (2009) … Sie bliesen opulent auf, intimisierten, abstrahierten und blieben Verdis genialer Perspektivenverdichtung vom äthiopisch-ägyptischem Krieg auf die leidvollen Einzelschicksale des Liebesdreiecks der äthiopischen Königstochter Aida, der Pharaonentochter Amneris und des ägyptischen Feldherrn Radamès trotzdem einiges schuldig. Die Münchner Dirigier- und Sängerbesetzungen allerdings gehörten in den Premieren und vielen Wiederaufnahmen oft zur definitiven Weltspitze. In dieser aus mehreren Gründen denkwürdigen Neuproduktion knüpfte man an diese Münchner Vorlieben insbesondere für diese Verdi-Oper an – mit dezent verschobenen Gewichten und durchaus fragwürdig. Vor der Pause gab es einige Buhs für Daniele Rustioni, den ersten Gastdirigenten der Bayerischen Staatsoper, zum Schluss für das München-Debüt des Regisseurs Damiano Michieletto. Letzteres zu Unrecht.
Diskrete Kriegsversehrten- und Ruinen-Revue
Es herrscht Konsens darüber, dass Verdis Prunkoper zur Eröffnung des Suezkanals und des Opernhauses Kairo eigentlich kein militaristisches Radau-Spektakel, sondern – vor allem in der zweiten Hälfte – ein intimes Kammerspiel sei. Zugleich stellten maßgebliche Interpretationen der letzten Jahre fest, dass dem Libretto Antonio Ghislanzonis, aber auch Verdis Musik Strukturen des Kolonialismus (und, sofern man Äthiopien mit Nubien gleichsetzt, des Rassismus) implantiert sind. Das kann man für eine szenische Lesart aufgreifen und überspitzen wie Andrea Moses in ihrer perfide-pessimistischen „Beutekunst-Aida“ am Deutschen Nationaltheater Weimar – oder sich mit Diskretion und Respekt auf Analogien aus der unmittelbaren Zeitgeschichte beziehen wie der klug-sensible Damiano Michieletto: Bei seiner ersten Inszenierung für München sind die ägyptischen und äthiopischen Gruppen (brillant in allen dynamischen und dramatischen Fraktionen der Staatsopernchor unter Johannes Knecht) kaum unterscheidbar, verflochten im Bürgerkrieg eines einzigen Volkes und deshalb auch nicht nach Stimmen von Priestern, Volk und Frauen gesplittet wie im Regiebuch von 1872 vorgesehen. Paolo Fantins Bühnenbild zeigt ein Zwischending aus Stadt- und Turnhalle mit letzten Gerätschaften, Decken für Geschädigte und Einschlaglöchern in der Decke. Am Ende gesellen sich vor dem riesigem Ascheberg ein Klezmerduo und Visionen einer utopischen Harmonie zu Aida und dem zuerst äußerst attraktiven, dann immer mehr zur Kampfmaschine deformierten Radamès.
Geifernde, klagende, verzweifelte Opfer
Die Massen sind Opfer und verhetzte Meute, sie klagen und geifern. Gerade mal elf Kriegsversehrte schleppen sich beim antimilitaristisch-martialisch intonierten Triumphmarsch über die Bühne und werden vom König mit Orden entschädigt, während die Videos von rocafilm klaffende Wunden, trübe Blicke und tiefe Furchen in Gesichtern anklagend vergrößern. Aida ist Helfende, ihre Liebesrivalin Amneris aus besserer Familie und viel mit tatenlosem Mitleid beschäftigt.
Von der Konzeptabgabe bis zur Premiere vergehen an großen Häusern meistens mehrere Spielzeiten. So war diese „Aida“ höchstwahrscheinlich bereits vor Beginn des Angriffs Russlands auf die Ukraine in trockenen Tüchern. Deshalb fällt hier sehr wohl ins Gewicht, wie banal alle realistisch anmutenden Regie-Spiegelungen von Krieg, sogar bei einem menschlich integren Taktgefühl wie dem von Michieletto und der Kostümbildnerin Carla Teti, anmuten müssen. Angesichts der politischen Tagesmeldungen gerinnen alle noch so gut gemeinten Regie-Rechtfertigungen zur Pose, deren emotionale Kraft kaum bis zum Pausentalk nachwirkt. Nur Elena Stikhinas durchdringend bewegende Gestaltung der Titelpartie gibt dem Abend das Außerordentliche, was großartige „Aida“-Vorstellungen auszeichnen kann. Die Verheerungen des Bühnenkrieges zeigen keinerlei Auswirkungen auf den Häppchen-Konsum nach dem Verlierer-Finale, steigern vielmehr die in der Pause von vielen Seiten artikulierte Sehnsucht nach stiller Opern-Einfalt und edler Pyramiden-Größe.
Rustionis groß-symphonische Lärmkultur
Der Teufel dieser Premiere steckt aber weniger in den Details der diskret an Mitleid, Gedenken und politisches Bewusstsein appellierenden Inszenierung Michielettos, die visuelle Übertreibung ebenso vermeiden will wie aufgeblasenes Gesinnungspathos, als in der bigott wirkenden musikalischen Leitung Daniele Rustionis. Regelmäßig wird das gerade sein 500-Jahre-Jubiläum feiernde Bayerische Staatsorchester als der Ferrari unter den Spitzenopernorchestern gefeiert. Man muss also glauben, was man hört. Und das ist bei Rustioni eine schon kindlich anmutende Freude an Verdis Gewalt-Aufmärschen und Fortissimo-Ensembles, von denen es in den ersten „Aida“-80 Minuten viele gibt. Rustioni ist ganz in seinem Element, wenn es mit groß-symphonischer Lärmkultur so richtig knallen und scheppern darf. Legitim und als Kontrast sogar sinnfällig wäre das, wenn auch die anderen „Aida“-Klangpole des Intimen stimmen und das Zarte trägt. Doch bei den prä-impressionistischen Wunderwirkungen (Applaus für die Flötengruppe) lässt Rustioni dem Bayerischen Staatsorchester kaum Raum zum Entfalten und Atmen. Da herrscht beim mediterranen Verdi also über weite Strecken instrumental-dirigentische Eiszeit. Deutlich hörbar – einmal am Beginn des zweiten Aktes, einmal in der Sterbeszene – ließ Rustioni die beiden Primadonnen einfach hängen und macht ohne solidarischen Blick auf die Bühne seine eigene Show.
Die großartige Besetzung hat es nicht immer leicht.
Es hätte nicht sein müssen, dass man von der sonst auch im dramatischen Fach samtweich durch alle Lagen gleitenden Anita Rachvelishvili zwar profunde tiefe Passagen, aber in den Höhen der verkappten Sopran-Partie Amneris ab und an leichte Risse hört. Es hätte auch nicht sein müssen, dass der bei Michieletto seine erotischen Absichten auf Amneris gewaltbereit einfordernde Oberpriester Ramfis trotz Alexander Köpeczis jugendkräftigem Bass-Strahl musikalisch eher unauffällig bleibt. Aber zum Glück ließ sich das Solistenensemble von Rustionis skrupelloser sinfonischer „Aida“-Dichtung nicht unterkriegen. Unter einem anderen Dirigat hätte George Peteans Pracht- und Kraftbariton vielleicht etwas mehr psychologische Tiefenschärfe entwickeln können. Und Brian Jagde, der einen Radamès ohne Fehl und Tadel schafft, hätte sich neben Bronze in der unteren und Metall in der oberen Lage auch Terrains im Piano erobern können. Andrés Agudelo und Elmira Karakhanova sind luxuriöse Besetzungen für ihre Miniparts, Alexandros Stavrakakis nur im Outfit ein „königlicher“ Amtsschimmel mit abgebrühtem Gleichmut.
Seelen- und Stimmen-Wärme
Elena Stikhinas helles Timbre ruft immer wieder Erinnerungen an die brennende Intensität der „Aida“ von Julia Varady wach. Zurecht zieht die Russin im Münchner „Aida“-Kosmos alle Sympathien auf sich. Von der ersten bis zur letzten Sekunde wirkt sie mehr mit den Emotionen als den technischen Herausforderungen ihres Parts beschäftigt. Fast jeder von Stikhinas Tönen ist eine disziplinierte und nachdrückliche Wärme-Offensive gegen Rustionis orchestrale Frostböen. Warum Verdis durch die aktuellen Diskurse zunehmend ins Zwielicht geratene Oper in der Beliebtheitsskala, wenn schon nicht in der Aufführungsstatistik, ganz oben rangiert, begründet Stikhina schlicht und intensiv. Trotzdem: An diesem Premierenabend war das Problempotenzial dieses Werks weitaus deutlicher als dessen Charisma. Der Premierenapplaus war an der Bayerischen Staatsoper auch schon mal länger – und vor allem herzlicher.
Bayerische Staatsoper München
Verdi: Aida
Daniele Rustioni (Leitung), Damiano Michieletto (Regie), Paolo Fantin (Bühne), Carla Teti (Kostüme), rocafilm (Video), Thomas Wilhelm (Choreographie), Alessandro Carletti (Licht), Johannes Knecht (Chöre), Mattia Palma, Katharina Ortmann (Dramaturgie), Anita Rachvelishvili, Elena Stikhina, Brian Jagde, Alexander Köpeczi, George Petean, Alexandros Stavrakakis, Andrés Agudelo, Elmira Karakhanova, Bayerisches Staatsorchester, Bayerischer Staatsopernchor, Extrachor der Bayerischen Staatsoper