Allein schon die Scheinwerfer suggerieren totale Kontrolle und Gefangenschaft. Dazu ein exemplarischer Lagerzaun, von der Sorte, die unter Strom stehen. Natürlich ist der Serbe Aleksandar Denić genau der Richtige, um ein exemplarisches sibirisches Straflager auf die Bühne zu setzten. In einem konkreten zaristischen hatte Fjodor Dostojewski jahrelang die Erfahrungen sammeln müssen, die in seine „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ mündeten. Die wiederum waren für Leoš Janáček die Steilvorlage für seine letzte Oper.
Nach den Frauenschicksalen, die im Zentrum seiner populärsten Bühnenwerke standen, gleich eine geballte Ladung von Männerschicksalen. Jeder ein männlicher Einzelfall von Schuld und Sühne. Oder beginnender Selbsterkenntnis. Was dann doch das Motto rechtfertigt, das der Komponist der Partitur voranstellte „In jeder Kreatur ein Funke Gottes“. Und was man durchaus als eine Aufforderung an jede Regie verstehen darf.
Wo Chéreau mit kleinen Siegen der Menschlichkeit berührte, hat bei Castorf das Motto des Komponisten ausgedient: „In jeder Kreatur ein Funke Gottes“
Patrice Chéreau jedenfalls hatte das vor knapp zehn Jahren so aufgefasst. Mit einer Personenführung, die mit kleinen Siegen der Menschlichkeit zutiefst berührte. Das ist Castorfs Sache nicht. Denn er sieht auf diese Oper als Ganzes, sozusagen vom höchsten Punkt der Wachanlage aus, irgendwo zwischen der Pepsi Cola-Reklame (in lateinischer und kyrillischer Version) und dem vergoldeten Doppeladler der Zaren. Das kommt beides vor im aktuellen, tonnenschweren, wie immer die Schaulust herauskitzelnden Drehbühnenwunderwerk. Denić schafft es noch jedes Mal, Räume zu verdichten, in denen sich Frank Castorf bzw. seine Darsteller austoben können. Da haben sich wirklich zwei gefunden!
Aus einem Totenhaus: Es wird ein Assoziationsfeuerwerk abgefackelt
Auch diesmal gibt es also einen Schauspieler-Entgrenzungskurs für Sänger. Und es wird ein Assoziationsfeuerwerk abgefackelt. In die Vergangenheit, in die Welt, in die Zukunft. Im besten Fall wird daraus eine Bühnen-Weltgeschichte des Jahrhunderts über den Verlust der Utopien wie im Bayreuther „Ring“. Den kann man mit zweitem Namen, je nach Geschmack, Castorf- oder auch Denić-„Ring“ nennen. Oder es entsteht ein surreales (Alp)Traum-Paris, das die Kolonialkriege der Grande Nation mitdenkt und den Eingang zur Hölle gleich neben dem Bistro an der Metro-Station Stalingrad platziert.
Ein perfekt gebauter Alptraum, in dem man sich verlieren kann, um selbst im Grauen noch zu schwelgen
In Denićs Bühnen-Gulag erinnert jetzt der Doppeladler an die Romanows. Die Reklame, die Film-Plakate, die Uniformen und dann die Einkaufstüte mit den Markensachen für den einzigen Entlassenen am Ende deuten eher auf die Epoche der roten Zaren. Oder noch schlimmer auf die Gegenwart. Es ist auch diesmal ein perfekt gebauter Alptraum, in dem man sich verlieren kann, um selbst im Grauen noch zu schwelgen. Die eingeblendeten, live hergestellten Videoaufnahmen aus dem Inneren sind bei Castorf längst zur Perfektion verfeinert. Als Markenzeichen und als Signatur seiner Arbeiten. Die Leinwände sind auch der Ort, auf dem sich Paralleles oder Assoziatives abspielt.
All das, was hier an zelebrierten Ingredienzien zusammen kommt, wird diesmal nur zu einem opulenten optischen Grundrauschen. Hier verliert man sich nicht nur in den Weite der geöffneten geistigen Räume, sondern allzu oft schlicht und einfach den Faden. Die Struktur des Stückes ohne einen dominierenden Handlungsstrang, die sich aus dem erinnerten Leben Einzelner speist, kollidiert hier eher mit der Castorf-Methode, als sie wirklich auf Hochtouren zu bringen.
Wenn Alles mit Allem zusammenhängt, lauert eine Regie-Ausrede
Folkloristische Elemente aus Mexiko – weil Trotzki dort von Stalins Schergen ermordet wurde? Dass Alles mit Allem zusammenhängt, taugt offensichtlich auch als Ausrede ganz gut. Spaß macht es hingegen, im Adler des Stückes einen Artgenossen des Waldvogels aus dem Bayreuther „Siegfried“ wiederzuerkennen. Und vielleicht sind ja die Hasen, die die zurückbleibenden Gefangenen am Ende in ihrem Verschlag betrachten, späte Nachkommen des Hasen, den Schlingensief in seinem „Hasifal“ (dem Bayreuther „Parsifal“) einst verwesen ließ. Oder doch nur die Hoffnung auf einen vernünftigen Braten? Auch ein Funke Gottes? Wer weiß. Ist aber auch egal.
Simone Young entfaltet am Pult die ganze Suggestionskraft von Janáčeks Musiksprache
Opulent – das ist der Nenner für die Szene. Grandios der für die Sänger und den Graben. Vor allem am Pult des Bayerischen Staatsorchesters sorgt Simone Young für ein wahrhaft großes Janáček-Klangpanorama. Mit allen Facetten der Suggestionskraft seiner Musiksprache, den lyrischen wie den auftrumpfenden Passagen. Ihre Opulenz setzt auf Klarheit, hält zusammen, lässt die Einzelschicksale aus dem Malstrom der Bilder dann doch hervortreten.
Peter Rose etwa als der adlige politische Gefangen Gorjančikov, dem es die Wachen erstmal so richtig zeigen wollen, der aber dann als einziger wieder entlassen wird. Oder Aleš Briscein, der als Luka davon erzählt, wie er seinen Vorgesetzten erstochen hat. Charles Workman als Skuratov steuert seine Geschichte bei, in der er aus Eifersucht den Bräutigam seiner Ex-Geliebten erschoss. Schließlich gelingt es dem großartigen Bo Skovhus Šiškovs Geschichte eines Betruges, der ihn dazu trieb, seine Frau zu ermorden, in aller Ausführlichkeit so zu erzählen, dass sie fast schon zu einem Stück im Stück wird.
Was mit dem tatsächlichen (Theater-)Stück im Stück seltsamerweise nicht so recht gelingen will. In dem Männerensemble schlägt sich Evgeniya Sotnikova hervorragend als junger Tatar Aljeja. Überhaupt lassen sich das ganze Ensemble und der Chor der Bayerischen Staatsoper mit bemerkenswerter Offenheit auf ihren Ausflug in die Welt des Castorf-Theaters ein. Auch wenn er damit die Durchschlagskraft seiner anderen Opernexkursionen nicht erreicht, bleibt der Fachwechsel des Dekonstrukteurs vom Dienst zur Oper allemal ein spannendes Abenteuer.
Bayerische Staatsoper München
Janáček: Aus einem Totenhaus
Simone Young (Leitung), Frank Castorf (Regie), Aleksandar Denić (Bühne), Adriana Braga Peretzki (Kostüme), Rainer Casper (Licht), Andreas Deinert, Jens Crull (Video), Peter Rose, Evgeniya Sotnikova, Aleš Briscein, Charles Workman, Bo Skovhus, Manuel Günther, Tim Kuypers, Christian Rieger, Ulrich Reß, Johannes Kammler, Galeano Salas, Boris Prýgl, Alexander Milev, Peter Lobert, Niamh O’Sullivan, Callum Thorpe, Matthew Grills, Kevin Conners, Dean Power, Long Long, Bayerisches Staatsorchester
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