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Opern-Kritik: Bayerische Staatsoper München – Die Gezeichneten

Das Leben ist eine Performance

(München, 7.7.2017) Ingo Metzmacher und Krzysztof Warlikowski addieren Schreker zum Exzess-Substitut

vonRoland H. Dippel,

Die Uraufführung in Frankfurt am Main und die Münchner Erstaufführung 1919 von Franz Schrekers Oper „Die Gezeichneten“ schwammen dahin auf einer Welle von Skandal und Sehnsucht nach einer sinnlichen Sphäre von Kunstreligion, Wirklichkeitsferne und Turbosensation. Nur wenige Jahre dauerte die Erfolgswoge Schrekers. Jetzt erobert sich diese starke, mitunter als aufgeblasen verschriene und von ihren Anhängern rückhaltlos gefeierte Oper die frühere Vorrangstellung allmählich zürück. Bei den Münchner Opernfestspielen kontert Krzysztof Warlikowski dem mächtigen geistigen Überbau mit einer Bilderflut aus Film, Video Art und Performance. Musikalischer Rausch und artistische Zeichen stehen nebeneinander, doch auch anno 2017 ist das größte Rätsel noch immer der Mensch.

„Die Schönheit sei Beute des Starken“

Szenenbild aus "Die Gezeichneten"
Die Gezeichneten/Bayerische Staatsoper © Wilfried Hösl

Allenfalls die gar nicht so ornamentale Sprache in Franz Schrekers selbstverfasstem Textbuch, das Richard Dehmels Beziehungskrisen-Lyrik dramatisch fortschreibt, könnte irritieren. Die Handlung selbst lässt nichts aus, was der Wiener Moderne zum Diskussions- und Skandalstoff wurde: Der Krüppel Alviano kreiert für seine adeligen „Freunde“ ein Sexparadies, in dem diese sich an Sprösslingen aus den besten Kreisen Genuas vergehen. Alviano vermacht den die Lustgrotte verbergenden Vergnügungspark „Elysium“ der Stadt und deren Bürgerschaft, öffnet den Eliteclub für die Massen. Dabei verwechselt er die künstlerische Neugier der herzkranken Malerin Carlotta mit menschlicher Hingabebereitschaft und schreckt vor der Vereinigung zurück, weil diese ihr das Leben kosten würde. Sein Nebenbuhler Tamare aber opfert das Leben der danach gierenden Carlotta in einem ekstatischen Paarungsakt. Alviano tötet ihn, seine Persönlichkeit verlöscht.

Warlikowskis Kunstdiskurs

Zu Beginn spiegelt sich der Zuschauerraum des Nationaltheaters auf der Bühne und sofort ist klar, dass es um die Gegenwart geht, nicht um die von Schreker als Folie gewählte italienische Renaissance oder die Münchner Moderne Frank Wedekinds, einem der Ideengeber für „Die Gezeichneten“. Ingo Metzmacher und das Bayerische Staatsorchester sind die Stars, trotz der Bildermacht auf der Bühne: Zum einen durch den bewusst gesteuerten Klangrausch. Die strukturelle Faktur bleibt dabei hörbar und mündet in eine gewaltige Überwältigung und dem Bewusstsein von deren Konstruiertheit. Musik und Szene addieren sich zum Exzess-Substitut. Bühne und Dekoration von Małgorzata Szczęśniak bilden eine Enzyklopädie der Materialien unserer Zivilgesellschaften: Glas, raue Wandflächen in Anthrazit, Businessstühle, Ovaltisch aus schwerem Naturholz, Bar. Das Leben ist eine Performance.

Szenenbild aus "Die Gezeichneten"
Die Gezeichneten/Bayerische Staatsoper © Wilfried Hösl

Carlotta fabuliert vom Malen, aber sie tut nichts. Ihr Herztod ist der Rückzug in eine Vitrine. Das zitiert die Schauspielerin Tilda Swinton, die sich einen Tag lang schlafend im New Yorker Museum of Modern Arts vor Betrachtern ausstellte. Die Schlüsselszene von Carlottas Selbstoffenbarung und Alvianos sich preisgebender Liebessehnsucht wird begleitet vom einem Video Denis Guéguins, inspiriert durch Kafkas Erzählung „Die Sängerin Josefine oder Die Welt der Mäuse“. Ebenfalls Mäuse sind die Alvianos Vergnügungspark erstaunt durchwandelnden Bürger. Einzige Ausnahme ist der Tölzer Chorknabe, der angesichts der vollkommenen Körper des Opernballetts als einziger jenen staunenden Schauder spielen darf, den die Musik einen ganzen Abend fließend und lustvoll in die gefühlte Unendlichkeit verlängert.

Party und Performance

Warlikowski erzählt über Schrekers Gespinst von erotischer Sucht, Sehnsucht und den eigenen Anspruch der Bebilderung von Robert Pfallers „Ästhetik der Interpassivität“ hinaus: Er animiert eine Gegenwartstopographie aus Körperfremdheit. Begehren wird zur Triebfeder von Selbstinszenierung. Damit etabliert er nach Hans Neuenfels‘ Ratten im Bayreuther „Lohengrin“ und Tobias Kratzers Primaten in der Weimarer „Italienerin in Algier“ ein „fabelhaftes“ Muster: Aus der Perspektive von Tieren und Tiermasken wird die im medialen Überfluss milliardenfach reproduzierte und banalisierte Funktionalität des Menschseins wieder zum Ereignis von spezifischer Wertigkeit.

Szenenbild aus "Die Gezeichneten"
Die Gezeichneten/Bayerische Staatsoper © Wilfried Hösl

Ein personelles Ereignis allerdings, das nicht mehr über sich und das eigene Wesenhafte kommuniziert, sondern über Symbole und Kunst in den Köpfen. Tamare und Carlotta, beider Begehren basiert auf sadistischen Unterwerfungsphantasien, überwinden ihre Distanz zueinander im Kino. Kopf an Kopf sehen sie Szenen aus „Der Golem“, „Phantom der Oper“, „Nosferatu“, „Frankenstein“ – all das Momente zwischen zerbrechlichen Frauen und Monstern. Alviano lässt ab von Carlotta, ihre lebenserhaltende Sauerstofftrommel steht daneben. Tamare aber verkrallt sich in sie und kann sich nach seinem Solipsismus nicht mehr in die Kleidung zwängen.

Begierden und Unfälle

Der „Herr der Künste und Sensationen“ Alviano ist eine Reinkarnation von David Lynchs „Elenfantenmensch“. In Details wie der von Warlikowski erfundenen Mutter Carlottas im Rollstuhl wird die Unmöglichkeit einer Überformung der Realität durch Kunst fassbar. Die Triebhaftigkeit hat sich längst von den deformierten Unterleibern in die Nerven verschoben.

Vor sechs Jahren war John Daszak im Nationaltheater bereits Zemlinskys „Zwerg“, den er als gar nicht krüppelhaften Intellektuellen in Schwarz spielte, den eine plastikbunte Kunstwelt von sich stößt. Jetzt meinen seine Riesenbeulen bei Warlikowski auch, dass es die Bizarrerie der Gedankenwelt Alvianos ist, der die grausamen Spiele einer gesellschaftlichen Elite erst ermöglicht.

Einsame Menschen auf der Suche nach verlorenen Lüsten

Die Sensation macht in München der analytisch balancierte Rausch des Orchesters, dem an keiner Stelle Gefahr durch magnetisierende Stimmen droht. Weder John Daszak und Christopher Maltman noch Catherine Naglestad trumpfen bravourös in Schrekers Melodien auf, stehen aber nichtsdestotrotz hochachtbar über ihren intensiven Partien. Das Münchner Klanggepräge zeigt einsame Menschen auf der Suche nach verlorenen Lüsten, nach Identität in kalten Räumen und vor allem nach ihrer verleugneten „conditio humana“.

Der Gipfelpunkt dieser kalten Welt ist, dass Herzog Adorno und der seinem Begehren ausgelieferten Tamare ihren Dialog vor einem Boxring mit seinen linearen Regeln und Gesetzmäßigkeiten führen. Hier hat die Stimme der Vernunft und der Macht die größte Wärme, Tomasz Konieczny ist der passende vokale Lichtstern vor dem dazu kontrastierendem Bodensatz: Heike Grötzinger (Martuccia) und Dean Power (Pietro) sind hysterisch aufheulende Underdogs wie aus „Clockwork Orange“.

Szenenbild aus "Die Gezeichneten"
Die Gezeichneten/Bayerische Staatsoper © Wilfried Hösl

Warlikowskis Sittenbild zeitigt Befindlichkeiten, die man „Postanimalismus“ nennen könnte. In Michel Houellebecqs Roman „Die Möglichkeit einer Insel“ raunen nur noch die virtuellen Scans menschlicher Psychen ihre synthetisch generierten Fantasien von Sinnlichkeit, Geistesblitzen und metaphysischen Sehnsüchten in die Kanäle. So etwas ist wohl gemeint in den Münchner „Gezeichneten“, bei denen eine fulminante Ensembleleistung Schrekers magische Grandezza in eine bestechende Collage aus Mangelerscheinungen und Projektionsflächen verpackt: Musiktheater als megacoole Performance.

Bayerische Staatsoper München
Schreker: Die Gezeichneten

Ingo Metzmacher (Leitung), Krzysztof Warlikowski (Regie), Małgorzata Szczęśniak (Bühne & Kostüme), Claude Bardouil (Choreographie), Denis Guéguin (Video), Sören Eckhoff (Chor), Stellatio Faggone (Kinderchor), Tomasz Konieczny (Herzog Antoniotto Adorno / Capitano di giustizia) Christopher Maltman (Graf Andrea Vitellozzo Tamare), Alastair Miles (Lodovico Nardi), Catherine Naglestad (Carlotta Nardi), John Daszak (Alviano Salvago), Heike Grötzinger (Martuccia), Dean Power (Pietro), Chor, Kinderchor und Statisterie der Bayerischen Staatsoper, Opernballett der Bayerischen Staatsoper, Bayerisches Staatsorchester

Termine: 1. (Premiere), 11.7.2017

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