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Opern-Kritik: Bayerische Staatsoper München – Krieg und Frieden

Krieg ist nur ein Betriebsunfall

(München, 5.3.2023) Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski macht sich mit Prokofjews Monumentaloper auf die sehnsuchtsvolle Suche nach der Schönheit in einem Leben voller Gewalt. Regisseur Dmitri Tcherniakov relativiert mit seiner präzise gearbeiteten szenischen Parabel die Entstehung von Gewalt im Allgemeinmenschlichen.

vonPeter Krause,

Es herrscht Nervosität an Deutschlands stolzester Staatsoper. Denn die Premiere eines Werks, das den Krieg nicht nur im Namen trägt, sondern ihn in praller Propaganda überhöht, ist in real existierenden Kriegszeiten schon ein mindestens riskantes Vorhaben. Zumal Sergej Prokofjew in „Krieg und Frieden“ nicht einfach Tolstois ausschweifenden Roman in Musik gesetzt hat (was angesichts der Länge der Vorlage ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wäre), sondern des Komponisten Gattin Mira Mendelson den damaligen Erwartungen des Diktators Josef Stalin beherzt entgegengekommen ist und den Chor Zeilen singen lässt, für die man den Begriff der Gewaltverherrlichung erst erfinden müsste: „Der Feind zerstampft unsere heimatliche Mutter Erde, aber die russische Kraft kann er nicht brechen… Wer mit dem Schwert nach Russland gekommen ist, der wird es nicht lebend verlassen.“ Nun war sich das Team um Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski und Regisseur Dmitri Tcherniakov einig, derartige Passagen, zudem das komplette 10. Bild mit dem Kriegsrat in Fili, dem Rotstift zu opfern. Auch das Finale der Oper mit dem „Hurra“-Chor und seiner Vision „Der Ruhm des heimatlichen Russlands wird in Jahrhunderten nicht verblassen“ und „Freu dich, du grenzenloses (SIC!) Land!“ ist ins Ungefähre der russischen „Rettung“ vor westlicher Bedrohung abgemildert. Fraglos wollte man das Werk seinerseits vor seiner krassen Aktualität retten, es überhaupt aufführbar machen. Ob das klappen würde, war indes kaum vorhersehbar. Störungen der Premiere waren kaum auszuschließen.

Szenenbild aus „Krieg und Frieden“ an der Bayerischen Staatsoper
Szenenbild aus „Krieg und Frieden“ an der Bayerischen Staatsoper

Dirigentische Dialektik trifft musikalische Mobilmachung

Um es vorwegzunehmen: Die Anspannung löste sich. Das Premierenpublikum der Bayerischen Staatsoper blieb zahm und nickte am Ende einen zumal musikalisch überwältigend starken Abend nach gut vier Stunden allenfalls ein wenig ermattet ab. Als ein Meister der dirigentischen Dialektik ging freilich Vladimir Jurowski mit weit mehr Konsequenz durchs Ziel als Regisseur Dmitri Tcherniakov. Wenn im ersten Teil offiziell noch Frieden herrscht und das private Drama um die zarte schöne Natascha (Olga Kulchynska singt sie als ein Zauberwesen des aufrichtigen Sopranlyrismus, das anrührender kaum sein könnte) im Mittelpunkt steht, die unerfahren zwischen dem wahren Liebenden Andrej (Andrei Zhilikhovsky singt ihn mit einem Kavaliersbariton zum Niederknien, gleichermaßen eloquent, edel im Ton und fein im Legato) und dem falschen Frauenfreund Anatol (Bekhzod Davronov mit nachgerade italienisch verführerischem Tenorschmelz) pendelt, da macht sich Jurowski zum Anwalt der Wahrheit. Mit dem famos disponierten, seinen Ausnahmerang unterstreichenden Bayerischen Staatsorchester macht er sich auf die sehnsuchtsvolle Suche nach der Schönheit in einem Leben voller Gewalt. Er spürt dem berückenden Melos bei Prokofjew nach, in dem er einen entfernten Verwandten von Puccini entdeckt. Umso deutlicher fällt dann der Wechsel der ins Manische hinein geschärften, ja aggressiven Artikulation im zweiten Teil nach der Pause, dem Kriegsteil der Oper, aus. Wenn der riesige Chor nun mit erhobenen Fäusten seine Begeisterung für den Krieg ins Nationaltheater schickt, dann heizt der Maestro den Fanatismus mit forsch drängenden Tempi noch an – und entlarvt ihn damit, als das, was er ist: das krassest mögliche Gegenteil einer Friedensvision. Die musikalische Mobilmachung entfaltet ihre ganze erschreckende Wirkung. Da liest ein großer Dirigent mit maximaler Genauigkeit, was in der Partitur steht. Dennoch versagt er sich in der selbstgewählten Münchner Strichfassung eine weitere Intensivierung dieses Schreckens, denn Schlimmeres als dieses musikalische Gemälde des Schlachtens wird dem Publikum durch die besagten Kürzungen ja erspart.

Szenenbild aus „Krieg und Frieden“ an der Bayerischen Staatsoper
Szenenbild aus „Krieg und Frieden“ an der Bayerischen Staatsoper

Ein Sozialexperiment im geschlossenen System

Der Krieg ist dennoch stets präsent – von Beginn an. Das macht Dmitri Tcherniakov unmissverständlich deutlich, indem er die Handlung in ein fiktives Moskau der Gegenwart verlegt – in jenes „Haus der Gewerkschaften“, das wie ein Spiegel der russischen Geschichte wirkt: Erbaut zu Zarenzeiten im Klassizismus des späten 18. Jahrhunderts war es indes nicht nur ein Konzertsaal, sondern durch die diversen Epochen hindurch ein repräsentativer Ort des russischen Imperialismus. In dem realistisch nachgebauten Säulensaal lässt der Regisseur eine offenbar zufällig zusammengewürfelte Gruppe von Individuen aller Altersschichten stranden. Auf Feldbetten und alten Matratzen harren die Menschen hier aus, womöglich haben kriegerische Handlungen in der Stadt sie genau hierher getrieben, wo sie nun wie in einem Bunker Schutz suchen. Heraus können sie momentan jedenfalls nicht mehr. Tcherniakov setzt hierin nun eine Art Sozialexperiment in Szene und fragt uns, welche Überlebensstrategien so eine bunte Truppe wohl an den Tag legen wird. Man teilt sich in Grüppchen auf, spielt Karten und spielt Ball. Die Ménage-à- trois zwischen Natascha, Andrej und Anatol erzählt er einfühlsam ohne schlichte Gut-Böse-Schemata. Nataschas Schwenk zu Anatol wird plausibel, weil ihr der Aufschneider einen Ausweg aus diesem geschlossenen System vorgaukelt.

Szenenbild aus „Krieg und Frieden“ an der Bayerischen Staatsoper
Szenenbild aus „Krieg und Frieden“ an der Bayerischen Staatsoper

Regierettung ins Groteske

Wie bei dem russischen Regiestar üblich, ist alles detailgenau virtuos und kunstvoll wie assoziationsreich ausgearbeitet. Interessant ist, wie er das scheinbar harmlose „Spiel“ des Sozialexperiments schrittweise in Ernst umschlagen lässt. Hatte am Ende des bei ihm bereits kriegerisch konnotierten „Friedensteils“ ein Kind mit einem Wassergewehr um sich geschossen, gewinnen die Chorgesten gleich zu Anfang des „Kriegsteils“ an echter Bedrohlichkeit. Die Damen und Herren schmieren sich mit einem dreifarbigen Lippenstift die dezidiert russischen Nationalfarben Weiß-Rot-Blau ins Gesicht. Und sie entwickeln in ihren privaten Klamotten ganz ohne Uniformen ihre kriegerischen Gelüste in einem Aufmarsch der Zivilisten, zu dem der russische Feldmarschall Kutusow (der bassmächtige Dmitry Ulyanov) als ein fetter Alter im Unterhemd mit herunterhängenden Hosenträgern von der Überlegenheit seiner Armee schwadroniert. Als dann der feindliche Napoleon (als bassintensive Karikatur: Tómas Tómasson) auftritt, wird das Kriegstheater perfekt. Denn der französische Gegenspieler stammt in diesem Setting natürlich den eigenen russischen Reihen und wird dann entsprechend herzlich verlacht. Die Regie rettet sich in die Groteske. Hier und da zitiert sie die mehr und weniger sympathischen russischen Denkmäler – von den Komponistengrößen Tschaikowsky, Schostakowitsch und Prokofjew bis zu den Diktatoren Lenin und Stalin. Als Wiedergänger des letzteren bettet sich Kutusow am Ende selbst auf das Totenbett, das naturalistisch dem mit roten Rosen umflorten Sterbelager Stalins nachempfunden ist. Pikant in diesem Kontext: Am Tag der Opernpremiere jährt sich der gemeinsame siebzigste Todestag des Komponisten Prokofjew und des Machthabers Stalin.

Szenenbild aus „Krieg und Frieden“ an der Bayerischen Staatsoper
Szenenbild aus „Krieg und Frieden“ an der Bayerischen Staatsoper

Reicht die Dystopie im Kleinen zur Erklärung von Krieg?

Nur: Werden all diese listigen Referenzen an die russische Großartigkeit einst und heute zur Rettung des Werks im Kriegsjahr 2023? So geschickt und handwerklich hochstehend Dmitri Tcherniakov hier auch verfährt, so sehr relativiert er mit seiner Dystopie im Kleinen doch den im Stück angelegten Imperialismus eines „Make Russia great again“. Denn er zeigt uns doch den Krieg als bloßen Betriebsunfall, der sich in Moskau so sehr ereignen kann wie in München, der somit letztlich in den Schwächen des Allgemeinmenschlichen seine Begründung findet. Diese zutiefst pessimistische Weltsicht verstört und sie fordert zum Widerspruch heraus. Genau dies sollte Kunst tun, wenn sie ihre Berechtigung beweisen muss.

Bayerische Staatsoper München
Prokofjew: Krieg und Frieden

Vladimir Jurowski (Leitung), Dmitri Tcherniakov (Regie & Bühne), Elena Zaytseva (Kostüme), Gleb Filshtinsky (Licht), Ran Arthur Braun (Kampfcoach), Malte Krasting (Dramaturgie), Andrei Zhilikhovsky, Olga Kulchynska, Alexandra Yangel, Kevin Conners, Alexander Fedin, Violeta Urmana, Olga Guryakova, Mischa Schelomianski, Arsen Soghomonyan, Victoria Karkacheva, Bekhzod Davronov, Alexei Botnarciuc, Christian Rieger, Emily Sierra, Martin Snell, Christina Bock, Sergei Leiferkus, Alexander Roslavets, Oksana Volkova, Elmira Karakhanova, Roman Chabaranok, Stanislav Kuflyuk, Maxim Paster, Dmitry Cheblykov, Nikita Volkov, Alexander Fedorov, Xenia Vyaznikova, Dmitry Ulyanov, Alexander Fedin, Liam Bonthrone, Csaba Sándor, Tómas Tómasson, Alexander Fedorov, Alexandra Yangel, Stanislav Kuflyuk, Bálint Szabó, Granit Musliu, Aleksey Kursanov, Thomas Mole, Kevin Conners, Alexander Vassiliev, Aleksey Kursanov, Csaba Sándor, Liam Bonthrone, Xenia Vyaznikova, Andrew Hamilton, Mikhail Gubsky, Christian Rieger, Jasmin Delfs, Jessica Niles, Solisten des Tölzer Knabenchors, Chor der Bayerischen Staatsoper, Bayerisches Staatsorchester

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