Die Produktionsdramaturgin Janine Ortiz schreibt unter Pseudonym Genreliteratur in den Bereichen Horror und Urban Fantasy. Das erklärt Einiges an der „Figaro“-Neuproduktion der Bayerischen Staatsoper München. Der in Kasachstan geborene Evgeny Titov ist eher im Schauspiel verankert, was man sieht. Nach seiner Absage zu „Semele“ bei den Münchner Opernfestspielen 2023 rudert Stefano Montanari mit den Armen und wirft Augenblitze ins präzise wie erregend spielende Staatsorchester. Das Ergebnis: Feinschliff, Brio und Brillanz auf höchstem Niveau. Die hochkarätige Besetzung wirkt mitunter kühl, auch der neue Münchner Ensemblestar Elsa Dreisig als Gräfin. Die Zeichen stehen im Nationaltheater also auf „Figaro“-Zeitenwende. In den letzten sechzig Jahren spielte man Inszenierungen von Regisseuren mit Anspruch auf psychologische Wahrhaftigkeit: Die Arbeiten von Günther Rennert und Dieter Dorn blieben Jahrzehnte im Repertoire, die von Christof Loy immerhin sieben Jahre. Ob Evgeny Titov mit Mozarts 1786 am Wiener Burgtheater uraufgeführtem Meisterwerk die vergleichbar hohe Haltbarkeit schafft, bleibt abzuwarten – trotz des frenetischen Schlussbeifalls. Applaus gab es sogar bei Mozarts lyrischem Innehalten in seiner Vertonung von Beaumarchais‘ Komödie „Der tolle Tag“.
Aus der erotischen Hinterkammer
Das Produktionsteam setzt die Diskurse über Freiheit fort, welche den sexuellen Avancen des Grafen Almaviva auf die Braut seines Dieners Figaro implantiert sind und von Lorenzo da Ponte in seinem Textbuch verdichtet wurden. So gerät die Charakterkomödie über weite Strecken zur motorischen Farce. Beide Lesarten sind legitim. In München dominiert exzessive Triebhaftigkeit, die erst im langsamen Finalsatz zur Scheinruhe gelangt. Dieser „Figaro“ spielt vor hohen, offenbar feuchten Wänden mit abblätternden Farben und ergrauten Neonröhren. Fast alle Requisiten sind phallische Symbole, von der Spitzhacke des Grafen bis zu Figaros Zollstock. Die fleischfarbenen Kostümfarben des grotesken Frauenchors (mit Absicht wenig lieblich einstudiert von Christoph Heil) sprechen Bände. Die beiden Hauptpaare haben geschwisterhafte Ähnlichkeit. Graf und Figaro tragen Hemd und offenes Haar, Gräfin und Susanna bevorzugen Tönungen in Kastanienrot. Der Kleidertausch und die damit einhergehenden Verwechslungen im Park, der hier eine Cannabis-Kolonie ist, geraten plausibel – und ernsthaft. Der Graf bedient einen Thronstuhl mit Lustfolter-Mechanik, die Couch in der Nische der Gräfin zeigt Gebrauchsspuren. Annemarie Woods spielt mit Andeutungen einer Zivilisation an der hedonistischen Wende. Das ist anfangs witzig und ein bisschen erregend, wird dann etwas flach.
Rüde Frauen- und Männerphantasien
Wie eine Reihe von erotischen Projektionen aus Perspektive Susannas ziehen die Männer auf. Der Graf gibt das lasziv-permissive Gegenbild zum normalen Figaro, zeigt Rauheit und eine satte Portion Devotion. Basilio und Cherubino posieren mit schwarzem Kunstleder vom Erotik-Laufsteg, später schillert Cherubino zwischen Army-Outfit und Trans-Utopie im weißen Brautkleid. Susannas Rock mit Blumen, auch die Intimwäsche der Gräfin verraten viel über Lust, Frust und Sehnsucht. Die Schwelle von Verführung zur sexuellen Gewalt ist niedrig. Zwischen den Gegnern Graf und Susanna knistert es sogar bedrohlich. Und am Ende deutet der Emotionen-Sucher Titov an, dass in dieser Opera buffa die falschen Töpfe und Deckel zusammenbleiben. Das geht fast unter im von Montanari mit geordneter Attacke ausgeführten „Figaro“.
Prägnant dabei das Intrigen-Trio: Dorothea Röschmann zelebriert ihren Einstieg ins Salon- und Boulevard-Fach bravourös. Williard White sekundiert als trockener Bartolo. Tansel Akzeybek gibt einen erotisch glatten Basiio. Trotz Edelbesetzung fehlen die Marcellina- und Basilio-Arie. Wie oft in deutlichen „Figaro“-Inszenierungen wird nicht plausibel, warum Barbarina den Verlust ihrer Unschuld bejammert (Eirin Rognerud). Martin Snell als Antonio und Kevin Conners als Curzio agieren als gehärtetes Komödianten-Urgestein.
Fünf starke Hauptpartien heutigen Zuschnitts
Vom Emotionen-Boller wird die Hosenpartie Cherubino in jüngerer Zeit oft zur nonbinären Quotenfigur im binären Schlagabtausch. Die Unterschiede zwischen Susanna und Gräfin reduzieren sich im Lauf des Abends. Louise Alder gelangt in der aufgesexten Dauerbefeuerung der Susanna immer schwerer zum individuellen Kern der längsten Partie im Stück. Elsa Dreisigs Kavatine klingt sehr hell, in der zweiten Arie und im Briefduett (beide mit zusätzlichen Verzierungen) reiht sie wertvolle kristalline Phrasierungen. Konturen- und facettenstark agieren Graf und Figaro: Nach Thomas‘ „Hamlet“ an der Komischen Oper Berlin, einer der profiliertesten Leistungen der letzten Spielzeit, gibt Huw Montague Rendall als Almaviva ein Mozart-Mannsbild mit Konturen von heute: Vokal prägnant und mit schönem Nachdruck, szenisch viril und hingebungsvoll.
Ein ideales Pendant ist Konstantin Krimmel. Dunkles Timbre mit heller Diktion, feingliedrigem Ausdruck und an Ausstrahlung der stärkste Sympathieträger. Differenziert, durchsichtig und kühl trägt Montanari in seiner achten „Figaro“-Produktion dieses Ensemble durch den zügigen, doch nie hektischen Abend. Die tieferen Instrumentalakzente hört man deutlicher als sonst. Dabei zählen Raisonnément und der Puls mehr als Mozarts genial komponierte Streicheleinheiten. In den Rezitativen vollführt das Hammerklavier auf einem Super-Spannungslevel Andeutungs- und Atmosphäre-Kaskaden. Kurz vor der Pause genehmigt sich Susanna einen Joint, nimmt die Turbulenzen um sich und ihre Hochzeit nur etwas schwankend wahr. Das passt zu Urban Fantasy und zeigt eher menschliche Motorik als emotionale Einmaligkeit. Auch dazu liefert Mozart das geniale wie subtile Klangdesign.
Bayerische Staatsoper München
Mozart: Le nozze di Figaro
Stefano Montanari (Leitung), Evgeny Titov (Regie), Annemarie Woods (Bühne & Kostüme), D. M. Wood (Licht), Katja Leclerc, Janine Ortiz (Dramaturgie), Christoph Heil (Chor), Huw Montague Rendall (Il Conte di Almaviva), Elsa Dreisig (La Contessa di Almaviva), Louise Alder (Susanna), Konstantin Krimmel (Figaro), Avery Amereau (Cherubino), Dorothea Röschmann (Marcellina), Willard White (Bartolo), Tansel Akzeybek (Basilio), Kevin Conners (Don Curzio), Eirin Rognerud (Barbarina), Martin Snell (Antonio), Seonwoo Lee, Xenia Puskarz Thomas (Mädchen), Bayerischer Staatsopernchor, Bayerisches Staatsorchester