Musikalisch ist die jüngste „Lohengrin“-Premiere an der Bayerischen Staatsoper in München ein echtes vorweihnachtliches Schmankerl. Als szenische Interpretation allerdings eher eine etwas härtere Nuss. Wobei die Orchesterverpackung für dieses Fest der Stimmen schon sehr robust geraten ist. Nicht nur weil Francois-Xavier Roth die königlichen Blechbläser des Bayerischen Staatsorchesters in die Rangloge links neben der Rampe verfrachtet hat und der Orchestergraben so hoch gefahren ist, dass man vom Parkett aus die Köpfe einiger Musiker sieht. Er hat auch keine Hemmungen, zuzulangen und beispielsweise den Hochzeitsmarsch richtig krachen zu lassen. Im ersten Akt fällt das noch nicht so auf, aber im Zweiten wirkt es irritierend, wenn sich einzelne Instrumentengruppen hörbar in den Vordergrund drängen. Natürlich hat ein zupackend diesseitiger Orchestersound auch mal seine Vorzüge im Vergleich zu den ätherischen Gralsmusik-Exerzitien im verdeckten Bayreuther Graben. Aber man kann es eben auch übertreiben.
Referenzverdächtige sängerische Qualität: von den Edelknaben und dem Chor bis zu Klaus Florian Vogt
Es gehört zu den (wohl nicht beabsichtigten) Wundern dieser Produktion, dass man diesen Einwand für sich genommen machen kann, ohne ihn mit der Klage zu ergänzen, dass die Sänger dadurch ernsthaft beeinträchtigt oder überdeckt werden. Denn das ist tatsächlich nicht der Fall. Die von Tilman Michael einstudierten Chöre natürlich eh nicht. Aber auch die Protagonisten folgen unbeirrt ihrem Stern in Richtung einer wirklich referenzverdächtigen Qualität. Das fängt schon im Kleinen an. Was die vier Burschen des Tölzer Knabenchores als Edelknaben vom Balkon über dem Portal im zweiten Akt beisteuern, macht ihren Rollennamen alle Ehre. Der Witz kindlichen Rumalberns erheitert; der standfeste Gesang überzeugt. Auch die anderen Vier, die brabantischen Edlen (Liam Bonthrone, Granit Musliu, Gabriel Rollinson und Roman Chabaranok) verdienen Erwähnung. Ins stimmliche Luxussegment geht es dann mit dem Heerrufer von André Schuen, der mit tadelloser Eloquenz an der Seite seines Chefs, dem profunden Mika Kares als König Heinrich, bleibenden Eindruck hinterlässt.
Beim finsteren Paar hat Anja Kampe als eine abgründig kämpferische Ortrud eindeutig die Führung. Imponierend, wie sie nach ihren Brünnhilden beim jüngsten „Ring“ an der Berliner Staatsoper unter den Linden hier eine Gegenspielerin Lohengrins liefert, wie man sie lange nicht live auf der Bühne erleben konnte. Aber auch Johan Reuter bleibt seinem Friedrich Telramund nichts schuldig. Was die beiden anderen, also Lohengrin und Elsa betrifft, so mag es abgegriffen klingen, aber beide sind wirklich ein Traum(paar), das einen auf die Stuhlkante treibt. Obwohl es fast schon ein Klischee ist, Vogt als den Lohengrin unserer Tage zu bezeichnen, er ist es wirklich und in München besser als je zuvor. Irgendwie altert seine Stimme nicht, bleibt in ihrer knabenhaft lichten Färbung eben gralskompatibel wie kaum ein andere. Johanni van Oostrum ist die mittlerweile dazu haargenau passende Elsa. Ein wunderbar runder Ton, herrliche Piani und mühelose Aufschwünge. Dazu hat sie nicht nur vokal, sondern auch darstellerisch, eine jugendliche Aura, wie man sie selten erlebt.
Eine tief traumatisierte Elsa und ein alberner Adventskalender
Dass ihre Elsa in der mit dem Shanghai Grand Theatre koproduzierten Inszenierung des Ungarn Kornél Mundruczó auf eine traumatisierte, im Grunde nicht zu rettende junge Frau festgelegt ist, bewältigt sie auch darstellerisch fulminant. Es ist schon eine Klasse für sich, wenn sie im ersten Aufzug von lauter gegenwärtig wirkenden, im hell gekleideten Einheitslook, aber gläubig auf ein Wunder Wartenden bedrängt wird und ihre Kontrahenten mit kurzen Gesten einer angedeuteten aggressiven Abwehrbewegung in die Flucht schlägt. Was Mundruczó als brabanter Gesellschaft in Erwartung des deutschen Königs anbietet, ist eine Art Gemeinschaft der Gleichen (mit dem König und seinem Heerrufer als Spielführer, Therapeuten, vielleicht sogar Gurus), die sich einen Heilsbringer imaginieren, auf den sie dann – nach ein paar Fehlversuchen – mit dem ausgestreckten Zeigefinger zeigen.
Für den Chor hat sich der Regisseur überhaupt ein ganzes Repertoire von Zeichen ausgedacht, wobei er ihn sonst mit eher unbeholfenen Tableauaufmärschen auf Trab hält. Richtig albern wird das im zweiten Aufzug vor dem Münster. Da öffnen sich um das üppige Portal im Zentrum herum wie in einem Adventskalender 26 Fenster, aus denen die Brabanter mit weißen Lilien und roten Bändern das bevorstehende Hochzeitsambiente aufhübschen. Samt Konfettiböllern und einem Hochzeitskleid für Elsa, das die zu einem goldenen Rad um sich herum auffächert. Um im dritten Aufzug wie verunglückt in diesem Etwas eingeklemmt zu hängen. In der Bühne für den Dritten Aufzug – nüchtern, weißer Raum mit zunächst verschlossener Tür, die Elsa von innen nicht öffnen kann – finden sich die Grünpflanzenelemente aus dem Ersten wieder. Elsa verfällt in ihr Trauma zurück. Dessen Ursache bleibt offen – wahrscheinlich die Anschuldigung, ihren Bruder ermordet zu haben. Entspannt und irgendwie bei sich ist sie nur während der trügerischen Kumpanei, die Ortrud ihr im zweiten Aufzug vorgaukelte, während sie zusammen mit ihr ein „Tütchen“ raucht.
Gruppendynamik mit Gewaltausbrüchen
Dass es der Regie vor allem um eine Gruppendynamik geht, die auch Gewaltausbrüche einschließt, wird im dritten Aufzug besonders deutlich. Was Lohengrin mit dem „Zum ersten Mal allein“ einleitet, das vollzieht sich hier in aller Öffentlichkeit. Es ist nicht die erste Kollision von Text und Szene – aber die wird mit hörbarem Gelächter im Publikum quittiert. Obwohl es den nächsten Widerspruch dieser Art konstituiert, ist es immerhin nachvollziehbar, wenn der Chor Telramunds Auftauchen im Brautgemacht mit einer kollektiven Steinigung quittiert.
Auf nach München!
Über den Meteroiten, der sich dann bühnenraumfüllend in Zeitlupe zur (himmlisch gesungenen) Monsalvat-Erzählung Lohengrins aus dem Schnürboden senkt und die XXL-Ausgabe der Steine ist, die zuvor schnell in erhobenen Händen waren und ebenso schnell wieder fallen gelassen wurden, wundert man sich dann kaum noch. Der Rest? Wie mittlerweile üblich gehen alle, inklusive Ortrud und Lohengrin, zu Boden. Nur Elsa nicht, die reist auf dem Meteoriten wer weiß wohin. Und Jung-Gottfried staunt über diese verlassene Welt, der er, ganz wagnertexttreu, ein Führer sein soll. Für die Liebhaber erstklassigen Wagnergesangs ist die Antwort klar: auf in die nächste Münchner „Lohengrin“-Vorstellung.
Bayerische Staatsoper München
Wagner: Lohengrin
François-Xavier Roth (Leitung), Kornél Mundruczó (Regie), Marcos Darbyshire (Mitarbeit Regie), Monika Pormale (Bühne), Anna Axer Fijalkowska (Kostüme), Felice Ross (Licht), Kata Wéber & Malte Krasting (Dramaturgie), Tilman Michael (Chor), Mika Kares, Klaus Florian Vogt, Johanni van Oostrum, Johan Reuter, Anja Kampe, Andrè Schuen, Liam Bonthrone, Granit Musliu, Gabriel Rollinson, Roman Chabaranok, Chor der Bayerischen Staatsoper, Bayerisches Staatsorchester