Startseite » Oper » Opern-Kritiken » Fremde Federn können tödlich sein

Opern-Kritik: Bayerische Staatsoper München – Semele

Fremde Federn können tödlich sein

(München, 15.7.2023) Die Händel-Hochburg im Süden der Opernrepublik beweist auch nach der Ära von Sir Peter Jonas ihre große Klasse: Die Inszenierung von Claus Guth wird zu den Opernfestspielen so sehr umjubelt wie die famose Sängerriege und Maestro Gianluca Capuano.

vonJoachim Lange,

Semele will nicht. Obwohl die eifrigen Wedding-Planer alles vorbereitet haben, die Stühle schon aufgestellt, die chic aufgestylten Gäste vor Ort sind. Samt der riesigen Buchstabenskulpturen, die man zum Schriftzug LOVE zusammenfügen kann. Oder auch umwerfen. So, wie es diese Braut macht, die am Arm ihres Vaters auf den unsichtbaren Traualtar (oder so was ähnlichem) zugeht. Dabei hat sie mit Athamas einen ziemlich attraktiven Bräutigam in Aussicht. Auch er ganz in Weiß. Der ist so attraktiv, dass ihre Schwester Ino ihn am liebsten von der Stelle weg heiraten würde. Was sie wie so ein trotziges Kind, dem Verhaltensregeln egal sind, auch zum Ausdruck bringt. Die noble Gesellschaft, die sich rausgeputzt und von einem flott choreografierten Personal mit Sekt versorgt wurde, wird aber zunächst um ihr Vergnügen gebracht. Und das für die Dauer der sich dank zweier Pausen auf über vier Bruttostunden ausdehnenden Vorstellung dieser zweiten Premiere der Münchner Opernfestspiele, die dem anmutigen Prinzregententheater vorbehalten ist.

Psychologisierende Vergegenwärtigung

Szenenbild aus „Semele“ an der Bayerischen Staatsoper
Szenenbild aus „Semele“ an der Bayerischen Staatsoper

Weder diese Länge, noch die extremen Außentemperaturen konnten freilich der Begeisterung des Publikums irgendetwas anhaben. Die traf am Ende nicht nur die Protagonisten, die während der Vorstellung schon fleißig (und zu Recht) abgesahnt hatten. Der Jubel traf auch Regisseur Claus Guth und sein Inszenierungsteam mit einer Wucht, wie sie heutzutage nur noch selten vorkommt. Dabei haben es sich weder er, noch Michael Levine (Bühne), noch Gesine Völlm (Kostüme), Roland Horvath (Video) oder Ramses Sigl irgendwie leicht gemacht und in die barocke Überwältigung verzogen, mit der man ja heutzutage durchaus Punkte machen könnte. Es gibt Opulenz, aber die macht durchweg Sinn und ist Teil einer psychologisierenden Vergegenwärtigung von Georg-Friedrich Händels „Semele“.

Frisch, dramatisch und witzig: So kann Barock rocken

Mittlerweile muss man nicht mehr erklären, dass das eigentlich gar keine Oper, sondern ein Oratorium ist. Die Nachwelt hat sich da längst entschieden. Außerhalb der drei jährlichen Händelfestpiele (Göttingen, Halle und Karlsruhe) kann sich München mit einigem Recht seit der Händelbegeisterung, die Sir Peter Jonas an der Isar entfacht hatte, auch eine Händelhochburg nennen. Zumindest sind die Bayerische Staatsoper und ihr Orchester ein Garant für Sorgfalt im Umgang mit der längst nicht mehr als so alt empfundenen Musik, wie die barocken Ariengirlanden, virtuosen Koloraturen, spektakulären Orchesterausbrüche und bis an die Grenzen des Stillstandes ausgebremsten Momente der Innerlichkeit gerne bezeichnet werden. Wie frisch, dramatisch und witzig es dabei auch zugehen kann, wie Barock rocken kann (selbst wenn es noch zündendere Kompositionen von Händel gibt als in „Semele“), das machte Gianluca Capuano mit der Auswahl von Musikern des Bayerischen Staatsorchesters, die im Graben des Prinzregententheater für einen packenden Händelsound sorgten, deutlich.

Brenda Rae (Semele) und Jakub Józef Orliński (Athamas) in „Semele“ an der Bayerischen Staatsoper
Brenda Rae (Semele) und Jakub Józef Orliński (Athamas) in „Semele“ an der Bayerischen Staatsoper

Götter mit überzeitlichen Persönlichkeitsmerkmalen

Die Geschichte hat es aber auch schon beim Librettisten William Congrave operntauglich in sich. Bieten doch der notorische Fremdgeher Jupiter und seine ebenso notorisch eifersüchtige Gattin Juno durchaus überzeitliche Persönlichkeitsmerkmale. Um Semele als Rivalin aus dem Weg zu räumen, bringt Juno Jupiters aktuelle Flamme durch eine raffiniert eingefädelte Intrige dazu, von Jupiter den Status der Unsterblichkeit zu fordern und zu verlangen, dass er sich nicht in menschlicher Tarnung, sondern in seiner eigentlichen göttlichen Gestalt zeigt. Alle wissen, dass das kein Mensch überlebt. Doch hat er sich von Semele zu einem Blanco-Eid überreden lassen und kommt nun nicht mehr aus der Nummer raus. Er zeigt sich also mit großem musikalischen Getöse in seiner Göttlichkeit und verwandelt Semele dabei zwangsläufig in eine Flamme. „Kommt davon“ – könnte man sagen. Aber neben dieser Moral von der Geschicht‘ entsteigt zum Trost für die überbegehrlichen Menschenkinder aus Semeles Asche zum Vergnügen der Menschheit kein geringerer als der Weingott Bacchus.

Faszinierendes Spiel mit doppeltem Boden

Brenda Rae (Semele) und Nadezhda Karyazina (Ino) in „Semele“ an der Bayerischen Staatsoper
Brenda Rae (Semele) und Nadezhda Karyazina (Ino) in „Semele“ an der Bayerischen Staatsoper

Bei Claus Guth verweigert Semele nicht nur das Ja-Wort, sondern bricht gleich ganz aus. Sie schlägt ein Loch in die weiße Wand und flieht in eine andere Welt. Dass die eigentlich ziemlich dunkel ist, hätte sie schon an der schwarzen Feder bemerken können, die aus dem Gefieder des Adlers stammte, dessen Gestalt Jupiter ebenso virtuos zum Verführen (in den Träumen) nutzt, wie viele andere Gestalten ja auch. Im Zweiten Aufzug erkennt man zwar den Riesenkronleuchter aus dem Hochzeitsfestsaal noch, aber die Bühne ist (fast schon barock) mit lauter hängenden Elementen wie eine Prospektebühne gefüllt. Dieses Spiel mit dem doppelten Boden bzw. dem vor oder hinter der Wand, in oder außerhalb der Welt des Rationalen ist faszinierend durchdekliniert. So haben Jupiter und Juno das Privileg, die anderen wie Marionetten oder Roboter fernzusteuern und nutzen das mit Lust am Spiel auch aus. Wenn Juno etwa durch den Mund von Semeles Schwester spricht, bewegt sich Nadezhda Karyazina als Ino so, als wäre sie Offenbachs Olympia.

Zu einem grandiosen Coup des ganzen Abends wird der von Jupiter ferngesteuerte Athamas. Der Counter Jakub Józef Orliński war vorher schon für seine kraftvoll glasklaren Höhen bejubelt worden. Als der mit der Spannbreite seiner kernigen Stimme ebenso eindrucksvolle Michael Spyres als Jupiter mit allen möglichen herbeigeschafften Geschenken und sogar eigenen Tanz- und Belustigungseinlagen so gar keinen Erfolg hat, greift er zum letzten Mittel. Er zaubert seinen Rivalen Athamas herbei und lässt den als Breakdancer von der Leine. Obwohl ihm der Ruf vorauseilt, dass er auch diese nichtvokale Form von Artistik beherrscht, löste sein haargenau eingepasster Auftritt einen Sturm der Begeisterung aus. Kunst kommt eben von Können, und auch davon zu wissen, wer was kann…

Jakub Józef Orliński (Athamas) in „Semele“ an der Bayerischen Staatsoper
Jakub Józef Orliński (Athamas) in „Semele“ an der Bayerischen Staatsoper

Die Titelpartie auf dem Koloraturenhochseil

In dem Weiß-Schwarz-Gegensatz ist die Welt der Götter ein Bild für das Ungezügelte, auch Anmaßende. Oder lediglich die dunkle Seite in einem selbst? Folgerichtig bleibt Semele physisch diesmal am Ende vorhanden, wenn auch wie im Wachkoma erstarrt. Sie wird jetzt allerdings von der wiederaufgetauchten Hochzeitsgesellschaft nur noch als Erinnerung wahrgenommen. So setzt die Szene am Ende alles wieder auf Anfang. Nur mit Ino als Ersatz-Braut. In der Titelpartie fasziniert Brenda Rae auf dem Koloraturenhochseil, so dass einem schon beim Zuhören die Luft wegbleibt und man ihr die Steigerung in den Wahnsinn ohne weiteres abnimmt. Emily D’Angelo legt in ihre hochattraktive Juno mit Bondgirl-Anmutung eine ordentliche Portion dramatischen Furor. Jonas Hacker (Apollo), Jessica Niles (Iris), Philippe Sly (Cadmus und Somnus) und Milan Siljanov (Hohepriester) bleibt bei so viel Hauptrollenglanz nur, wacker einzurahmen, was ihnen auch durchweg gelingt. Am Ende: Jubel für alle!

Bayerische Staatsoper München
Händel: Semele

Gianluca Capuano (Leitung), Claus Guth (Regie), Michael Levine (Bühne), Gesine Völlm (Kostüme), Michael Bauer (Licht), rocafilm (Video), Ramses Sigl (Choreographie), Yvonne Gebauer & Christopher Warmuth (Dramaturgie), Brenda Rae, Michael Spyres, Jonas Hacker, Jakub Józef Orliński, Emily D’Angelo, Nadezhda Karyazina, Jessica Niles, Philippe Sly, Milan Siljanov, LauschWerk, Bayerisches Staatsorchester

Auch interessant

Rezensionen

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!