Startseite » Oper » Opern-Kritiken » Barocke Vokalraketen in der Wagnerstadt

Opern-Kritik: Bayreuth Baroque – Ifigenia in Aulide

Barocke Vokalraketen in der Wagnerstadt

(Bayreuth, 5.9.2024) Das Markgräfliche Opernhaus wird zur ersten Adresse für Händels Zeitgenossen Nicola Porpora: Countertenor Max Emanuel Cencic inszeniert und singt zugleich, lässt dabei indes zwei jüngeren Kollegen des gleichen Stimmfachs den Vorrang.

vonKirsten Liese,

Viel nackte Haut dominiert zu Beginn die Bühne des Markgräflichen Opernhauses Bayreuth: spärlich bekleidete, fast splitternackte Krieger, wie man sie von antiken Vasen und Fresken kennt, rüsten sich zur Jagd. Bald wird ihre Trophäe herbeigeschleppt. Die Hirschkuh, freilich eine Attrappe, wird zum Zankapfel zwischen der verärgerten Jagdgöttin Diana und dem mächtigen König Agamemnon. Zur Sühne soll er in Gestalt seiner Tochter Iphigenie ein Menschenopfer bringen, andernfalls bekommt er nicht den benötigten Fahrtwind zu seiner Weiterreise im Trojanischen Krieg.

Zum dritten Mal präsentiert Max Emanuel Cencic in seiner fünften Ausgabe des noch jungen Bayreuth Baroque Opera Festivals ein Musikdrama des Neapolitaners Nicolà Antonio Porpora. Neben gleich drei Festivals in Göttingen, Halle und Karlsruhe, die sich ganz allein dem Oeuvre Georg Friedrich Händels widmen, wird Bayreuth zunehmend zu einer ersten Adresse für seinen zeitweisen intriganten Konkurrenten Porpora.

Mehr Virtuosentum geht nicht

Ob es sich lohnt, dessen Musikdramen auszugraben, darf eindeutig bejaht werden, auch wenn Händel eine tiefsinnigere Musik mit schwermütigeren Lamenti schrieb. Eine Arie wie „Lascia ch’io pianga“, die zum Schönsten zählt, was Oper überhaupt hervorbrachte, lässt sich bei Porpora nicht finden. Denn das unterschied letztlich die beiden Komponisten, die um 1733 in London im Zuge politischer Streitigkeiten zu erbitterten Rivalen wurden: Händel spürte stets dem Seelenleben seiner Figuren nach, während sich Porpora, der auch ein gefragter Gesangspädagoge war, in erster Linie dem Virtuosentum verpflichtete.

Szenenbild zu „Ifigenia in Aulide“
Szenenbild zu „Ifigenia in Aulide“

Dafür steht „Ifigenia in Aulide“ aus dem Jahr 1735 geradezu beispielhaft. Eine Arie toppt die nächste in ihrem Reichtum an Koloraturen, wobei die anspruchsvollsten Partien der Titelheldin und dem Helden Achilles zufallen, der es sich zur Aufgabe macht, sie zu retten. Ungemein kraftvoll kommt die Musik daher, insbesondere ein ungewöhnliches Männerduett am Ende des zweiten Akts überrascht, in dem sich Achilles und der den Göttern verpflichtete Priester Kalchas wütend an die Gurgel gehen.

Max Emanuel Cencic als fantasiereicher, kreativer, innovativer Regisseur

Und doch erschien „Carlo, Il Calvo“, das drei Jahre später, also 1738 geschriebene Musikdrama, mit der Cencic 2020 seine erste Ausgabe des noch jungen Festivals in der Wagnerstadt Bayreuth eröffnete, publikumswirksamer, insofern es sich mühelos als höchst unterhaltsame, witzige Telenovela in den 1920er Jahren aufziehen ließ. In „Ifigenia in Aulide“ – nebenbei ein beliebter Stoff, den Händel ein Jahr zuvor in seinem Pasticcio „Oreste“ ebenso aufgriff wie später Luigi Cherubini und Christoph Willibald Gluck – geht es dagegen weniger lustig zu. Aber das spricht für Max Emanuel Cencic als fantasiereichen, kreativen, innovativen Regisseur, der für jedes Stück den richtigen Ansatz findet. Figuren zu denunzieren oder gar der Lächerlichkeit preiszugeben, kommt für ihn nicht infrage, und das hätte bei einem heiteren Zugang in diesem Stück zu befürchten gestanden. Es darf als durchaus wagemutig bezeichnet werden, dass er deshalb keine Scheu zeigt, das Altertum seitens der Ausstattung optisch einzubeziehen. Das funktioniert sehr gut, beschert der Produktion Poesie wie schöne Schauwerte und erinnert in seinen besten Momenten an Schauspiel-Aufführungen griechischer Tragödien eines Peter Stein.

Szenenbild zu „Ifigenia in Aulide“
Szenenbild zu „Ifigenia in Aulide“

Die Inszenierung hat auch ihre rätselhaften Momente

Auf Giorgina Germanous Bühne wirken neben der Antike auch anachronistisch andere Epochen hinein: Vertikale, verschiebbare Wandelemente zeigen mal eine Art Fototapete von einer abstrakten Schneelandschaft, verwandeln sich dann in eine mit dem Sujet harmonierende zarte Federzeichnung aus dem 18. Jahrhundert und bilden zeitweise eine undurchdringbare metallische Front – In manchen Details bleibt die Inszenierung mitunter rätselhaft: So löst Cencic bis zum Ende nicht auf, was es mit drei in Plastik eingeschweißten Embryonen auf sich hat. Und gerätselt werden darf auch darüber, warum es auf der Bühne zwei Iphigenien gibt: eine stumme Figur, die durch die Szene wandelt, und eine schwarz gewandete Dame, die ihr vom Bühnenrand ihre Stimme gibt. Das war hier ausdrücklich keine Notlösung wegen einer indisponierten Sängerin, sondern zählte zum Regiekonzept dazu.

Jasmin Delfs sang die Titelrolle nebst der kleineren Partie der Diana – und wie! Mühelos führte sie ihren luziden Sopran durch alle Register bis in höchste Spitzen. Dieser Gesang war von einer kristallinen, betörenden Schönheit, wie man ihn nicht alle Tage hört. Vielleicht wollte Cencic mit dieser Figurendopplung den Sinneswandel der Göttin plausibler gestalten, die womöglich Agamemnon in seiner Reaktion auf die Probe stellen will? Oder geht es um die von Achilles mehrfach formulierte Behauptung, dass Götter und Menschen doch stärker miteinander verbunden sind, als es manchen bewusst ist, mithin also nicht die allmächtigen Götter mitleidslos mit den Menschen verfahren?

Szenenbild zu „Ifigenia in Aulide“
Szenenbild zu „Ifigenia in Aulide“

Vier pralle barocke Stunden – und keinerlei Ermüdung

Dass bei alledem hier und da an der Rampe gesungen wird, tut der Produktion keinen Abbruch. Der erfahrene Theatermensch Cencic lässt seine Figuren ihre Emotionen derart lebendig durchleben, dass die Gefahr einer Ermüdung in keinem Moment aufkommt. Mit knapp vier Stunden Spielzeit inklusive zweier Pausen ist diese Produktion allerdings auch deutlich kürzer als der fünfstündige „Carlo, il Calvo“.

In den Fußstapfen des legendären Kastraten Caffarelli

Gesungen und musiziert wird aufs Trefflichste. Zwar ließ sich Cencic, der sich erneut auch als Countertenor auf der Bühne einbringt, zu Beginn wegen einer Erkältung entschuldigen. Aber ohne die Ansage hätte man das vermutlich angesichts seiner perfekten Darbietungen gar nicht bemerkt. Klug war der 47-Jährige beraten, den Agamemnon zu übernehmen, der seitens der Tessitura tiefer liegt als die beiden anderen Partien für hohe Männerstimmen. Nicolò Balducci gibt Odysseus als einen resoluten, eher verständnislosen Mann, der vor dem Zorn des Heeres warnt, mit einer für einen Countertenor ungewöhnlichen Kraft. Den Achilles, der bis in schwindelerregende Höhen eines Koloratursoprans hinaufreicht, besetzt Cencic ideal mit einem männlichen Sopranisten. Maayan Licht brilliert in dieser Rolle mit schlafwandlerischer Sicherheit und schlanker, schöner Tongebung.

Szenenbild zu „Ifigenia in Aulide“
Szenenbild zu „Ifigenia in Aulide“

Alles, was man an Emotionen und Beseeltheit in seinen Part hineinlegen kann, kitzelt er hervor: Die zärtliche Liebe zu Iphigenie, seinen Trost für den so hart gestraften Agamemnon und seine Wut gegen den unmenschlichen Priester Kalchas. Der berühmte Kastrat Caffarelli, den Porpora als Gesangsschüler unter seinen Fittichen hatte und den er am Ende seiner Ausbildung mit den Worten entließ, er könne ihm nichts mehr beibringen, er sei der größte Sänger Europas, hätte das nicht besser gekonnt. Zumal es beeindruckt, wie Licht von Arie zu Arie immer noch eins draufsetzt, sich mit seinen Koloraturen in immer noch höhere Register hinaufschraubt, rasanter seine Töne wie an Perlenschnüren aufzieht, bis er schließlich im dritten Akt in der Arie „Le limpid‘ onde“ („Die kristallklaren Wellen“) den absoluten Höhepunkt mit einem Spitzenton im Falsett erreicht. Gefühlt eine Minute hält er den im Pianissimo, um sich von da aus bruchlos wieder in tiefere Gefilde zu begeben. Mehr an Vokalartistik geht nicht.

Verdienter Jubel für Les Talens Lyriques unter ihrem Chef Christophe Rousset

Mezzosopranistin Mary-Ellen Nesi stellt in diesem Musikdrama eine sonor tönende Klytämnestra dar, die schon seitens des Librettos von Paolo Amtonio Rolli nicht halb so gespenstisch erscheint wie in Richard Strauss‘ „Elektra“, wenngleich seitens Kostüm und Hochturmfrisur ähnlich imposant seitens der Erscheinung. Riccardo Novaro komplettiert als ein Kalchas mit seinem profunden Bariton das typengerecht besetzte Ensemble. Les Talens Lyriques bewältigen unter Christophe Rousset die schwierige Gratwanderung einer vitalen stilsicheren Einstudierung ohne überhetzte Tempi. Dafür gab es verdienten Jubel. Und sogar noch eine kleine Zusage an das begeisterte Publikum.

Bayreuth Baroque
Porpora: Ifigenia in Aulide

Christophe Rousset (Leitung), Max Emanuel Cencic (Regie), Giorgina Germanou (Bühne & Kostüme), Romain de Lagarde (Licht), Jasmin Delfs, Maayan Licht, Max Emanuel Cencic, Mary-Ellen Nasi, Nicolò Balducci, Riccardo Novaro, Les Talens Lyriques

Auch interessant

Rezensionen

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!