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Opern-Kritik: Bayreuther Festspiele

Kunst aufräumen und Leiche schubsen

(Bayreuth, 25.7.2024) Die Bayreuther Festspiele haben mit einer Neuinszenierung von „Tristan und Isolde“ durch Thorleifur Örn Arnarsson begonnen – mit nur kurzen Aggressionshärten und fast ohne Psychodynamit im unendlichen Liebessehnen.

vonRoland H. Dippel,

Sie sind wirklich „Aug‘ in Auge“ und „Mund an Mund“ während Brangänes in der Bayreuther Eröffnungspremiere recht diesseitig klingendem Nachtgesang – also in Mitte des Stücks und dessen rekordlangen Liebesduetts. Bei seiner ersten Bayreuther Regie langt Thorleifur Örn Arnarsson, früher Leiter der Volksbühne Berlin, ganz ohne Dialektik in die Vollen. Tristan und Isolde breiten ihre Arme aus wie zum Liebestodessprung, bevor Marke und Melot den Seelenorgasmus beider unterbrechen. Am Ende robbt Isolde wie eine Verdurstende zu Tristan, schüttelt und schubst dessen Leiche zum natürlich aussichtslosen Wiederbelebungsversuch. Auch Marke setzt seinem wie einen Sohn geliebten Rivalen bemerkenswert gewalttätig zu. Aber zur Realitätsflucht der beiden Menschen Isolde und Tristan, an denen Wagner neben deren drangvollem Zueinanderwollen einen ganzen Kosmos von Kommunikations- und Zivilisationshürden abarbeitete, bedarf es keiner äußeren Anlässe. Tristan selbst bringt sich mit einem Stoß seiner Faust durch Glas die tödliche Wunde bei. Ab da ist er ganz bei sich.

Bei aller Innerlichkeitsbemühung durch Regie und Dirigat gibt es im neuen Bayreuther „Tristan“, Wagners schwieriger und 1865 in München uraufgeführter „Handlung in drei Aufzügen“, doch hochdramatische Augenblicke in schwelgerischen Viertelstunden. Szene oder Musik überwältigen zuweilen, gehen aber im Vierstunden-Sprint vom „öden Tag“ ins „Wunderreich der Nacht“ noch nicht ganz oder vorerst nur beiläufig zusammen.

Szenenbild aus „Tristan und Isolde“ bei den Bayreuther Festspielen
Szenenbild aus „Tristan und Isolde“ bei den Bayreuther Festspielen

Schnellstart in die sanfte Lyrik

Den magischen Moment im verdunkelten Raum des Festspielhauses beim Warten auf den ersten Akkord aus dem unsichtbaren Orchester gab es diesmal nicht. Semyon Bychkov beginnt mit den drei Streichertönen zum revolutionären „Tristan-Akkord“, als einige Touchscreens noch leuchten und nicht alle Menschen im Saal sitzen. Der leichte Spannungsverlust beim Promenade- und Medien-Brimborium mit jedem Jahr gefühlt größerer Polizei-Obhut bleibt auch nach Premierenbeginn. Es bestand keinerlei Anlass zu existenziellem Hochdruck, weil alles stimmt: Vorstellungen ausverkauft mit Ausnahme des „Parsifal“ am 14. August. Festspielleiterin Katharina Wagner ist für weitere fünf Jahre als künstlerische Leiterin bestätigt. Das merkantile Erfolgserlebnis von 55 Prozent Eigeneinnahmen passt, auch die künstlerische Programmierung mit Ausgewogenheit von Dirigentinnen zu Tenor-Stars wie Michael Spyres und Piotr Beczała sowie dem Musical-Experten Matthias Davids als „Meistersinger“-Regisseur für 2025. Im besten Sinne ist das Bayreuther Profil bis zur Erstaufführung von Wagners großer Oper „Rienzi“ zum 150-Jahre-Jubiläum der Festspiele 2026 „smart“. Genie-Schübe und Provokationsspitzen sind eh nicht planbar. Sie ergeben sich von selbst – oder nicht.

Szenenbild aus „Tristan und Isolde“ bei den Bayreuther Festspielen
Szenenbild aus „Tristan und Isolde“ bei den Bayreuther Festspielen

Potenzial zu großer Verdichtung

Letzteres im Falle der „Tristan“-Premiere. Dabei haben Inszenierung und Interpretation das Potenzial zu großer Verdichtung. Die „Tristan“-Vision von Bychkov, der nach „Parsifal“ 2018 und 2019 kein Bayreuth-Neuling ist, setzt auf gelichtete Melodik, Lyrik und Filigranes. Die Holzbläser des Bayreuther Festspielorchesters agieren duftig. Dann gibt es immer wieder sehr konzentrierte Momente und lassen manchmal doch den dramatischen Nachdruck vermissen. Das bekommt vor allem der langen Marke-Klage im zweiten Akt sehr gut, die Günther Groissböck rund und kräftig ohne Pathos-Überdosis setzt. Der hartnäckige Buher gegen ihn war ungerecht. Christa Mayer ist eine intensive Brangäne, welche die Partie angemessen aus dem Schatten Isoldes holt. Olafur Sigurdarson zeichnet einen korrekten Kurwenal mit sicherer Stimme. Überdurchschnittlich und charakterstark erweisen sich alle Slim-Partien: Birger Radde als Melot, Matthew Newlin als junger Seemann, Daniel Jenz als Hirt und Lawson Anderson als Steuermann.

Szenenbild aus „Tristan und Isolde“ bei den Bayreuther Festspielen
Szenenbild aus „Tristan und Isolde“ bei den Bayreuther Festspielen

Ohne Psychodynamit

Camilla Nylund, als Isolde bereits in Zürich und Dresden umjubelt und bewundert, kommt im ersten Akt nur schwerlich gegen Bychkov an, als sie zeigt, dass Wagners Partitur neben chromatischer Wellness kräftigen Sarkasmus und Häme enthält. Solche Extreme will Bychkov nicht, sublimiert über weite Strecken das Bittere im Lieblichen und endet mit einem ekstatischen Liebestod. Wie immer in der Festspielhaus-Akustik sind Wagners Kolorit-Effekte wie der Sekunden-Männerchor, das Englischhorn und das A-cappella-Solo des jungen Seemanns unüberbietbar. Nach jedem Akt gibt es donnernden Jubel für das Sängerensemble. Am Ende wird der Widerspruch gegen das Regieteam angesichts der recht moderaten Gangart des Dramas ziemlich scharf. Was wurde da verübelt?

Szenenbild aus „Tristan und Isolde“ bei den Bayreuther Festspielen
Szenenbild aus „Tristan und Isolde“ bei den Bayreuther Festspielen

Isoldes „… er sah mir in die Augen“ wird zum Ausgangspunkt der Konzeptgedanken

Außer Thorleifur Örn Arnarssons in Relation zur Gesamtdauer doch recht kurzen Aggressionshärten bleibt seine Personenregie erklärend und fast ohne Psychodynamit. Man dachte noch weiter als Wagner in seiner Adaption der mittelalterlichen Tristan-Quellen. Arnarsson rekapitulierte die traurige Jugend des depressiven Tristan im Ritterepos des Gottfried von Straßburg, sinnierte über Wagners Mysterium als „langes Adagio“ (Ernst Bloch) und machte Isoldes „… er sah mir in die Augen“ aus der Erzählung im ersten Akt zum Ausgangspunkt der Konzeptgedanken. Diesen Satz signalisiert Camilla Nylund deutlichst, aber nicht Bychkov.

Szenenbild aus „Tristan und Isolde“ bei den Bayreuther Festspielen
Szenenbild aus „Tristan und Isolde“ bei den Bayreuther Festspielen

Eine Isolde der beeindruckend lyrischen Timbrierung

Sie hat nach ihren Brünnhilden in Zürich und dem Wechsel ins schwere Wagner-Fach noch immer eine beeindruckend lyrische Timbrierung. Mit Können und Sicherheitsdenken nimmt Nylund dramatische Attacken, wächst im zweiten und dritten Aufzug zu schwelgender Größe. Andreas Schager hat in der gefürchteten Tristan-Partie als derzeit strahlkräftigster Wagner-Tenor eine unerschütterliche Kondition. Alle hohen Töne schleudert Schager mit souveräner, ja jauchzender Energie heraus und ist dabei bestens durch die Manie der Partitur legitimiert. In den Fiebermonologen lässt Schager sich auf Bychkovs ruhig fließenden Gestus ein, schwenkt dann desto intensiver in die kantable Todeskurve. Schager setzt auf Glanz statt Morbidezza und unterscheidet sich dadurch imponierend von Kollegen, die Konditionsökonomie als Gestaltungswillen zurechtflunkern.

Szenenbild aus „Tristan und Isolde“ bei den Bayreuther Festspielen
Szenenbild aus „Tristan und Isolde“ bei den Bayreuther Festspielen

Großes Aufräumen im Kunst-Depot

Weniger Rätselhaftigkeit denn angemessene Realitätsflucht erhält dieser „Tristan“ durch die Ausstattung. Lange ist Isolde Gefangene eines mit Worten und Graphik-Ornamenten besetzten Schleiers. Diese Zwangsjacke als Symbol von Isoldes einzwängender Sozialisation ist Sibylle Wallums Premium-Objekt. Ihre noblen Kostüme bewegen sich zwischen schwarzem Krähenmantel für Marke und einer Brangäne wie aus „Mondbasis Alpha 1“. Der Bühnenraum besteht erst aus Seilen für das Schiff nach Cornwall. Vytautas Narbutas nötigt das Paar in der Liebesszene zur Promenade durch ein Kunst-Depot der Zivilisationsgeschichte, bei dem die Inventarisierungskräfte sehr lange Pause machten. Im dritten Akt ist dann alles säuberlich gestapelt, während die Planken eines Schiffsunterdecks auseinanderdriften. Die Entgrenzung des Paars wird deutlich: Tristan und Isolde wollen heraus aus der Geschichte, der Welt, dem normativen Sein. Der Raum erzählte bei der Premiere mehr als der lange, ruhige Fluss des Orchesters und die Suspense-Zacken der Regie. Das könnte zusammenwachsen und tiefere Bedeutung gewinnen. Das Publikum späterer Vorstellungen darf sich auf ganzheitliches Wagner-Wachstum freuen. Und auf Bayreuth-Abende ohne jene trockene Geschäftigkeit, welche diese Eröffnung fast zur Pflichtübung machte. Es geht weiter mit „Tannhäuser“, „Ring“ und „Parsifal“.

Bayreuther Festspiele
Wagner: Tristan und Isolde

Semyon Bychkov (Leitung), Thorleifur Örn Arnarsson (Regie), Vytautas Narbutas (Bühne), Sibylle Wallum (Kostüme), Sascha Zauner (Licht), Andri Hardmeier (Dramaturgie), Andreas Schager, Camilla Nylund, Olafur Sigurdarson, Günther Groissböck, Birger Radde, Christa Mayer, Daniel Jenz, Lawson Anderson, Matthew Newlin, Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele

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