Das Staunen hat sie nicht verlernt. Lise Davidsen weiß zwar sehr wohl, was sie kann, und sie hat einen Masterplan, wohin sie ihr aufregend kastanienschimmernd gefärbter jugendlich dramatischer Sopran noch führen kann: zu Wagners Isolde und Brünnhilde. Nach ihrem Debüt als Puccinis „Tosca“ zur Eröffnung des Bergen International Festival aber überreicht ihr die Königin ihrer norwegischen Heimat einen Strauß Blumen, um der wohl bedeutendsten Opernsängerin des Landes seit den alten Zeiten von Kirsten Flagstad zu danken. Und Davidsen bekennt am Tag darauf demütig fragend: „Ist das wirklich passiert?“
In die bis auf den letzten Platz besetzten Grieghallen im einstigen nördlichsten Stützpunkt der Hanse war zu Beginn der Aufführung König Harald und Königin Sonja getreten, um auf zwei eigens eingebauten roten Sesseln in der ersten Reihe Platz zu nehmen. Da gibt es Standing Ovations des Publikums für die Ehrengäste, und es entsteht eine knisternde Spannung, bevor Edward Gardner dann den Einsatz für die ersten brutalen Akkorde von Puccinis Partitur gibt und mit dem Bergen Philharmonic Orchestra einen symphonisch ausmusizierten, wuchtigen, in der Tiefe weit gestaffelten und farblich fein ausgeloteten Klangkrimi voller dunkler Glut entfaltet.
Ein Weltstar der Oper kommt nach Hause
Der körperlich gerundete, warm geerdete Charakter des Orchesters und Lise Davidsens nordisch getönter Sopran harmonieren ideal. Sie hat hier in Bergen vier Jahre studiert, bevor sie nach Kopenhagen wechselte, sie kennt viele Orchestermitglieder persönlich, die beiden Aufführungen der „Tosca“ sind gleichsam ein Heimspiel und sie bilden den Auftakt ihrer umfassenden Rolle als Artist in Residence, dem sich in den Folgetagen des bis zum 7. Juni dauernden Festivals noch ein Lied-Rezital, die Sopranpartie in Verdis „Messa da Requiem“ und eine Masterclass anschließen werden.
Zum Auftakt des wunderbar wandlungsfähigen, die Grenzen der Kunstsparten durchlässig machenden, Vergangenheit und Zukunft der Künste verschränkenden, die Stadt als Ganzes zur Bühne machenden Festivals aber wagt Lise Davidsen also erstmals, jene tragische Heldin zu verkörpern, die ihrerseits eine Sängerin, ja im Wortlaut des Librettos eine Diva ist. Ihr Liebhaber Cavaradossi ist ein Maler, der zu Beginn der Handlung den Auftrag erfüllt, die Maria Magdalena in einer römischen Kirche zu verewigen. Ihr Gegenspieler ist der Psychopaten-Sadist und Polizeichef Scarpia, der seinen Machtmißbrauch konsequent ins Sexuelle ausweitet – ein frühes Paradebeispiel von Meetoo.
Lise Davidsen hat es nicht nötig zu kopieren. Sie stellt uns „ihre“ Tosca vor
Tosca, die Primadonnenoper im wahren Wortsinne, birgt Gefahren für die Interpretin der Titelpartie: Da lauern all die großen Vorgängerin einer verklärten Vergangenheit, die gleichsam Modelle kreiert haben: Es gibt die Tosca der Maria Callas, der Renata Tebaldi, der Leontyne Price, der Montserrat Caballé, der Mirella Freni, der Birgit Nilsson – als letzter legendärer Vertreterin einer nordisch stahlklaren Soprandramatik. Lise Davidsen hat es nicht nötig zu kopieren. Sie stellt uns „ihre“ Tosca vor. Und die verblüfft uns zunächst mit vielen zarten, innigen, lyrischen Tönen. Jung und mädchenhaft stellt uns Davidsen ihre Tosca zunächst vor, gar nicht divenüppig.
Die Tosca des Beginns ist bei ihr eine Frau von natürlicher Naivität, die einfach enorm verliebt ist. Das macht sie anfällig für die Einflüsterungen eines erfahrenen Männerscheusals wie Scarpia, der in ihr die Eifersucht mit taktischem Geschick herauskitzelt und sie für sich nutzbar macht. Hintergründig verschmitzt umgarnt sie zuvor ihrerseits ihren Cavaradossi, wenn sie ihn zu überzeugen sucht, seinem Frauengemälde doch bitte schwarze Augen zu schenken, die den ihren ähneln sollen. Ihren Sopran führt sie hier leicht von der Höhe aus, gleitet ganz behutsam ins Brustregister hinab, versteift die Stimme nie. In der Begegnung mit Scarpia aber verliert sie das Mädchenhafte und damit ihre Unschuld, sie reift zur Dame. Erstmals mischt sie ihrem Sopran in „Dio mi perdona“ düster abschattierte Farben bei.
Von der Verletzlichkeit und Verletztheit der Künstlerin Tosca
Ihr Arsenal an Ausdrucknuancen weitet sie im zweiten Akt schrittweise: „Non so nulla“, „assassino“ oder „Quanto? Il prezzo?“ – jeweils an Scarpia gerichtet – wagt sie im Sinne des Verismo erstmals als quasi gesprochene Phrasen. Das „Vissi d’arte“ geht sie im Pianissimo feinherb anrührend an, im Verein mit Edward Gardner am Pult langsam und mit weitem Atem. Selten wird die Verletzlichkeit und Verletztheit der Künstlerin Tosca so unmittelbar spürbar. Die große absteigende Finallinie der Arie auf „Signor“ kann sie wie kaum eine andere Sängerin auf nur einem einzigen Atem intonieren. Grandios. Ihr Bekenntnis bei der Tötung Scarpias „sono Tosca“ ist nicht jenes einer Rachefurie, sondern einer modernen Frau, die weiß, wer sie ist und weiß, welche Abgründe im Menschen lauern. Die oft nahezu gesprochen Phrasen wie „A lui tremava tutta Roma“ singt sie dann wieder – in satt dunkler Tongebung, die von den famosen Streichern des Bergen Philharmonic Orchestra entsprechend unterstrichen wird.
Vom Wissendwerden einer jungen Frau
Lise Davidsen erzählt uns stimmlich vom Wissendwerden einer jungen Frau, die nebenbei auch Primadonna ist. Damit trifft sie Toscas Charakter so sehr, wie sie von sich selbst zu berichten weiß. Wenn der Verismo den Anspruch auf Wahrheit in der Kunst erhebt, dann löst diese Ausnahmeerscheinung einer Sopranistin ihn vollends ein. Im dritten Akt scheint in der letzten Begegnung mit Cavaradossi noch einmal das Mädchen von einst auf: „e noi siam soli“ ist eine Erinnerung an bessere Zeiten, die wiederkommen mögen, aber nicht wiederkommen werden. Cavaradossi mag noch an das Spiel des Deals einer Scheinhinrichtung glauben.
Davidsens wissende Tosca ahnt das Schlimmste. Zu derlei Differenziertheit angestachelt wird die Norwegerin durch den Scarpia des Bryn Terfel, der an diesem Abend zu einer Inkarnation des Bösen wird. Seine lauernde Gefährlichkeit ist so furchteinflößend, so manipulativ berechnend, so in jedem Blick, jeder kleinen Geste und jeder Textfeinheit ausgelotet, dass uns der große walisische Bassbariton erschaudern lässt. Die schönen hohen Tenortöne für den Cavaradossi hat Freddie De Tommaso alle, und er zelebriert sie wie die Rollenvertreter der 1970er Jahre: je länger, desto besser. Das macht zumal in „La vita mi costasse“ des 1. Akts wenig dramatischen Sinn, aber dennoch Eindruck. Im Sinne des Werks agieren starke Vertreter der Nebenpartien: Christian Valle als bassbuffomächtiger Sagristano, Kjetil Støa als prägnanter Spoletto oder der Knabensopran Olav Frøyen Sandvik als anrührender Hirtenjunge.
Oper, Theater, Tanz und Musik in spannungsvoller gegenseitiger, gleichsam grenzenloser Durchdringung
Die weltstargespickte Eröffnung mit einem absoluten Repertoireklassiker ist freilich nur eine Festivalfacette unter dezidiert vielen. Denn Oper, Theater, Tanz und Musik gerade auch der Gegenwart begegnen sich in Bergen auf Augenhöhe und in spannungsvoller gegenseitiger, gleichsam grenzenloser Durchdringung – oftmals mit Uraufführungen, spartenübergreifend, überraschend – und meist in Eigenproduktionen des Festivals. Immer wieder wird die Stadt selbst zur Bühne und ihre Bewohner zu Mitspielern, wenn künstlerische Interventionen wie im Funicular auf den Hausberg für willkommene Irritationsmomente sorgen und Lust auf Mehr machen. Da mischen sich dann auch die Publikumsschichten munter und ungezwungen, wenn an einem Abend Jon Fosses neues psychofinsteres Kammerschauspiel Inside the Black Forest aus der Taufe gehoben wird und danach um die Ecke des Theaters das junge norwegische Damentrio han gaiden im Kulturhaus für lautstarke Elektro-Lounge-Atmosphäre sorgt.
Viele der anregenden Programme dauern nur eine Stunde, sodass die Festivalfreunde sich problemlos nach eigenem Geschmack ein abwechslungsreiches Konzertmenü mit mehreren Gängen zusammenstellen können. Zeitgenössisches Tanztheater der norwegischen Truppe Carte Blanche stellt in der dokumentarischen Performance Birget kritische Fragen nach dem Verhältnis von indigenen Minderheiten zur norwegischen Mehrheitsgesellschaft, wenn Sámikultur und Tanzensemble aufeinandertreffen. Wer mag, kann danach dann noch ganz schlicht und ergreifend in Edvard Griegs Villa ein Klavierrezital genießen, das die Japanerin und Gewinnerin der Grieg Competition Fuko Ishii mit Ravel und Brahms sowie zwei Komponisten aus Bergen bestreitet: Die jüngst wiederentdeckte Anne-Marie Ørbeck sowie Hausherr Edvard Grieg, auf dessen altem Steinway die junge Musikerin an diesem Abend spielen darf.
Bergen International Festival
Puccini: Tosca
Edward Gardner (Leitung), Jesper Kongshaug (Licht), Nicolai Riise (Konzertregie), Håkon Matti Skrede (Chorleitung), Lise Davidsen, Freddie De Tommaso, Bryn Terfel, Ashley Riches, Christian Valle, Kjetil Støa, Ludvig Lindström, Olav Frøyen Sandvik, David Hansford, Edvard Grieg Choir, Edvard Grieg Boys Choir, Bergen Philharmonic Choir, Collegium Musicum‘s Choir, Bergen Philharmonic Orchestra