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Opern-Kritik: Bregenzer Festspiele – Der Freischütz

Philipp Stölzls Magie-Maschinerie auf dem Bodensee

(Bregenz, 17.7.2024) Die Bregenzer Festspiele beweisen mit ihrer Eröffnung durch Staatsvertreter, wie politisch die Kunst sein kann. Die Inszenierung von „Der Freischütz“ durch Philipp Stölzl als winterliches Spiel auf dem sommerlichen Bodensee lebt von ihren krachenden filmischen Effekten.

vonPeter Krause,

Der Vormittag vor der Premiere zu „Der Freischütz“ auf dem See glich einem Klassentreffen der demokratischen Selbstvergewisserung. Der österreichische Bundeskanzler Alexander van der Bellen und der für die Kultur zuständige Vizekanzler Werner Kogler – zudem Festspielpräsident Hans-Peter Metzler – gaben nacheinander derart flammende Bekenntnisse wider die Polarisierung und wider die Spaltung der Gesellschaft ab, dass man sich als Gast aus dem nahen Deutschland die Augen rieb. Da erkannte der Vizekanzler die Kunstform der Oper als Lehrstück dafür, „wie wunderbar die Komplexität der Welt sein kann.“ Und spitzte sein Statement zu mit den Worten: „Der lange Theaterabend immunisiert gegen die gleichermaßen anstachelnde wie betäubende Demagogenrede.“

Szenenbild zu „Der Freischütz“
Szenenbild zu „Der Freischütz“

Der Bundespräsident lobte dazu die „wunderbare österreichische Widersprüchlichkeit“ und skizzierte mit feinsinnigem Humor ein Gesellschaftsbild des „Dazwischen“, das nicht in „Freund oder Feind“ unterscheide und Menschen in Schubladen stecke. Die Vereinfacher von Links- wie von Rechtsaußen dürften und sollten sich angesprochen gefühlt haben. Und die ebenso anwesende deutsche Kulturstaatsministerin Claudia Roth erhielt gleichsam ideales Anschauungsmaterial dafür, wie Sonntagsreden höchst stimmig mit dem Geist des Widerspruchs zu würzen sind: Da war das politische Wort als mutige Gratwanderung auf dem schmalen Steg einer positiven Vereinnahmung der Künste wahrzunehmen.

Glückserlebnis eines gemeinschaftlichen Geistes: Das Singen als heimliche Schule des Aufeinanderhörens

Die Musik der Eröffnungs-Matinée im Festspielhaus unterstrich die Gedanken mit Nachdruck und wurde zum Glückserlebnis eines gemeinschaftlichen Geistes: Zumal das Finale aus Rossinis „La cambiale di matrimonio“ (Brigitte Fasbaender inszeniert die einaktige Farsa comica gerade mit den exzellenten jungen Sängern des Opernstudios und bringt sie am 12. August zur Premiere) als Kabinettstückchen des perfekt getimten Durcheinanderplapperns und heimlicher Schule des Aufeinanderhörens bestätigte das zuvor und hernach Gesagte vortrefflich. Mit berührender Wärme sang zudem Anna Goryachova Rezitativ und Arie des Tancredi aus Rossinis gleichnamiger Oper, die heute als zweite Festspielpremiere herauskommt. Und Enrique Mazzola dirigierte zu Beginn mit Verve die Wiener Symphoniker in der Ouvertüre zu „Der Freischütz“, der dann am Abend als Neuinszenierung auf der Seebühne erstmals zu bestaunen war.

Szenenbild zu „Der Freischütz“
Szenenbild zu „Der Freischütz“

Effektpralle Action-Momente und ein sommerliches Frösteln am Bodensee

Nach seiner Sicht auf Verdis „Rigoletto“ setzte Philipp Stölzl mit Carl Maria von Webers romantischem Schauerstück bereits zum zweiten Mal das Spiel auf dem See in Szene. Als sein eigener Bühnenbildner hievte er dazu eine winterliche Dorflandschaft auf die aufwändig sanierte Seebühne mit ihrer runderneuerten Betonbasis. Der Dreißigjährige Krieg, nach dessen Ende die Oper offiziell spielt, hat dem beschaulichen Ort brutal zugesetzt: Das Dorf ist buchstäblich abgesoffen, von der Kirche ragt nur noch der Turm aus dem Nass, die Häuser sind krumm und schief, die kahlen Bäume gleichen Gerippen – und die Sitten sind rau. Es herrscht weiterhin Kriegsrecht in dieser rohen Winterlandschaft einer echten Endzeit. Max und Kilian buhlen derweil um die Gunst der Jungfrau Agathe, tragen ihren Kampf um die rotblonde Schöne natürlich direkt im Wasser aus.

Szenenbild zu „Der Freischütz“
Szenenbild zu „Der Freischütz“

„Winnetou“ und das Western-Genre lassen grüßen

Wenn Stölzl solche Action-Momente effektprall im Western-Stil inszeniert, wähnt man sich mitunter bei den Karl May-Spielen in Bad Segeberg und gar nicht bei den Bregenzer Festspielen, was insofern nicht verwundert, drehte der Regisseur doch 2016 seine Neuverfilmung der „Winnetou“-Erzählungen. Die Bildmacht seiner Inszenierung nimmt aber auch Anleihen bei Fantasyfilmen, wenn in der Wolfsschlucht gar ein feuerspeiender Drache aus den Fluten emporsteigt. Die technischen Möglichkeiten der Bregenzer Festspielen scheinen da kaum Grenzen zu kennen, um der überbordenden Einfallsfreude des Regisseurs zu entsprechen und sie detailgenau in die szenische Tat umzusetzen. Philipp Stölzls Magie-Maschinerie läuft rund: Er erzeugt perfekte Illusionen, greift tief in die Trickkiste des Films.

Szenenbild zu „Der Freischütz“
Szenenbild zu „Der Freischütz“

Des Teufels Moritat

Da verschwinden Personen und tauchen aus dem Wasser wieder auf, da verwandelt sich der das böse Ende zum Guten wendende Eremit (ein veritabler Wiedergänger Gottvaters) unmerklich in jenen Teufel, den die Regie zur Hauptfigur aufwertet. Moritz von Treuenfels ist denn auch ein wunderbar wendiger und witziger Samiel, für den Jan Dvořák zusätzliche und dazu gereimte Texte erfunden hat, mit denen der Versucher durch den gesamten Abend führt, der auf diesem Wege zu des Teufels Moritat mutiert. Das Ende verrät er seinem Publikum in einem der Ouvertüre vorangestellten Vorspiel auf dem Theater. Agathe wird – von Max tödlich getroffen – zu Grabe getragen, der miserable Schütze selbst wird an einem der kahlen Bäume aufgeknüpft. Im Finale wiederholt sich das Bild, bis der Eremit das Happy End verkündet, das Stölzl dann nochmals durchaus dramaturgisch klug und für eine Open Air-Produktion eher unüblich zu brechen versteht.

Szenenbild zu „Der Freischütz“
Szenenbild zu „Der Freischütz“

Krasse Eingriffe in von Webers „Der Freischütz“

Im Gedächtnis bleibt freilich: Es spektakelt in höchstem Ausmaß im neuen Spiel auf dem See, das mit dieser Version von „Der Freischütz“ deutlich in die Nähe einer allzu populären Musical-Machart gerät. Opernorthodoxe mögen darüber die Nase rümpfen, denn erstmals in der Geschichte der großen Open Air-Inszenierungen am Bodensee greift ein Regieteam beherzt in die Werkvorlage ein – jenseits der hier üblichen Striche, die nötig sind, um auf die übliche pausenlose Zweistunden-Nettospieldauer zu kommen, die es Besuchern aus dem Umland ermöglicht, noch mit der Bahn die Heimreise oder doch die Fahrt in benachbarte Gemeinden anzutreten, die jene Hotelkapazitäten bieten, über die Bregenz allein gar nicht verfügt. Manche Musiknummern fehlen ganz (die zweite Arie des Ännchens), andere sind verstümmelt (Kaspars Trinklied) oder werden durch Samiels Kommentare unterbrochen (Agathes „Leise, leise“). Wo das reine Spektakel nicht mehr hilft, um das frühromantische Weltbild von Webers in die Gegenwart zu retten, da wird eifrig ironisiert sowie Agathe und Ännchen ein modernes Frauenbild verordnet, das der Freundschaft der beiden emanzipierten Damen eine gleichgeschlechtliche Note verleiht: Sie wollen aus der Enge des Dorfs im Ländle (wo wir uns ja letztlich mit der Inszenierung befinden) in die nahe Schweiz fliehen.

Szenenbild zu „Der Freischütz“
Szenenbild zu „Der Freischütz“

Starkes und szenisch stark gefordertes Ensemble

Die Kostüme von Gesine Völlm verorten die Handlung gleichwohl klar im offiziellen Rahmen des 17. Jahrhunderts. Das fast alle Figuren des Öfteren durchs Wasser waten müssen, muss sie die Sängerinnen und Sänger darunter in Neoprenanzüge gesteckt haben: eine enorme Herausforderung für die Darstellenden, die sich auf dieses etwas andere „Freischütz“-Abenteuer mit Verve einlassen. An der Spitze der Premierenbesetzung steht das Hohe Paar: Nikola Hillebrands sopranätherische Agathe und Mauro Peters liedhafte lyrische Emphase vor heldische Dramatik stellender Max. Beide bestechen durch subtile Textbehandlung. Katharina Ruckgaber befreit das Ännchen mit starken Soprantönen vom schlechten, weil verniedlichenden Soubretten-Image, Christof Fischesser besitzt die rechte Basswucht für des Teufels Gespiele Kaspar. Bassbalsamisch stattet Andreas Wolf den Eremiten mit seiner noblen Stimme aus. Prägnante Charakterportraits in den Nebenpartien entwerfen Liviu Holender als Ottokar, der zur Karikatur des Bayerischen Königs Ludwig II. mutiert, Franz Hawlata als mosaisch langbärtiger Oberförster Kuno und Maximilian Krummen als präpotent übergriffiger Frauenheld Kilian.

Szenenbild zu „Der Freischütz“
Szenenbild zu „Der Freischütz“

Weitere Vorstellungen bis 18. August – sowie erneut im Sommer 2025

Elisabeth Sobotka, die nach Ende der diesjährigen Bregenzer Festspiele an die Staatsoper Unter den Linden in Berlin wechselt, überlässt mit der Stabübergabe an die ebenso anwesende neue finnische Intendantin Lilli Paasikivi, die bislang die Finnische Nationaloper mit Fortune leitete, ein bestens bestelltes Festivalgetriebe. „Der Freischütz“ bleibt ihrer Nachfolgerin und dem Publikum im Festspielsommer 2025 noch erhalten. In diesem Jahr ist die frostige Sommeroper noch bis 18. August in drei wechselnden Besetzungen zu erleben.

Bregenzer Festspiele
Weber: Der Freischütz

Enrique Mazzola (Leitung), Philipp Stölzl (Regie & Bühne), Gesine Völlm (Kostüme), Philipp Stölzl & Florian Schmitt (Licht), Wendy Hesketh-Ogilvie (Stunt- und Bewegungsregie), Franziska Harm (Mitarbeit Bühne), Lukáš Vasilek, Benjamin Lack (Chor), Alwin Bösch & Clemens Wannemacher (Ton), Jan Petzold(Toneffekte), Olaf A. Schmitt (Dramaturgie), Liviu Holender, Franz Hawlata, Nikola Hillebrand, Katharina Ruckgaber, Christof Fischesser, Mauro Peter, Moritz von Treuenfels, Andreas Wolf, Maximilian Krummen, Theresa Gauß, Sarah Kling, Wired Aerial Theatre, Statisterie der Bregenzer Festspiele, Bregenzer Festspielchor, Prager Philharmonischer Chor, Wiener Symphoniker

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