Allerhand heimliche Verbindungslinien führen in diesen Festspieltagen von einem konkurrierenden Kunstereignis zum anderen. Da eröffnet Philippe Jordan zunächst die Bayreuther Festspiele mit einem Mendelssohnianisch aufgelichteten Dirigat von Wagners komischer Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“. Dann reist der Schweizer Maestro mit Noch-Hauptwohnsitz Paris flugs nach Bregenz, probt mit seinen Wiener Symphonikern wiederum Wagner, führt dann dessen „Siegfried-Idyll“ als filigran-frühlingsduftendes Pianissimo-Wunder auf, um nach der Konzertpause eine Weltklassedeutung des ersten „Walküre“-Aufzugs zu leiten, mit einem Klangbild voller dunkler Erdung und Sängern, die er großteils gleich aus Bayreuth mitgebracht hat: Andreas Schager singt einen heldentenoral stahlgeschmeidigen Siegmund, Kwangchul Youn einen bassverschmitzt gewaltigen Hunding und Martina Serafin als einzige Noch-Nicht-Bayreutherin ein Sieglinden-Vollweib von edelster Diktion und maximaler Identifikation.
Am Morgen danach platzt dann die Bombe: Philippe Jordan wird ab 2020 zum Musikalischen Direktor der Wiener Staatsoper berufen. Sein Amt als Chef der Wiener Symphoniker muss er dazu aufgeben, seine Amtszeit an der Pariser Oper um ein Jahr verkürzen. Es verlautet: Jordan werde seine Opernkraft dann sehr auf das neue Epizentrum Wien konzentrieren, allenfalls sommerliche Auftritte in Bayreuth und Salzburg (sic!) annehmen.
Bayreuth trifft Bregenz, Bregenz trifft Wien, Wagner trifft Rossini
Neben den personellen Neuigkeiten sind auch die inhaltlichen Querverbindungen höchst spannend. Denn just die mit ihrem „Spiel auf dem See“ durchweg opern-populistisch aufgestellten Bregenzer Festspiele zeigen nun den Kollegen in Bayreuth, wie Wagner – auch – geht. Nicht nur in Konzertform. Denn mithilfe des niederländischen Künstlerkollektivs „Hotel Modern“ wagen die Österreicher den beherzten Perspektivwechsel in Wagner-Dingen: weg von den hehren Höhen des Mythos hin zum Mikrokosmos der Insektenwelt.
Wenn Bayreuth denn endlich ein echtes dramaturgisches Rahmenprogramm erfinden würde, dann müsste dieser „Ring in 90 Minuten“ dazugehören. Denn erstens ist die „Ring“-Bearbeitung für Bläserensemble und Kontrabass von Willem van Merwijk ein echter Wurf, der den Meister effektfreudig jazzig schon mal in die Nähe eines Kurt Weill rückt. Und zweitens strotzt die Übertragung der Geschichte von der germanischen Götterwelt in die Biosphäre von Käfern und Quallen, Taranteln und Schmetterlingen von einer fantasieprall kindlichen Freude, die wie nebenbei, mit ganz leichter Hand zum ausgeprägten Tierfreund Richard Wagner zurückführt. Dazu wird das live gezeigte Puppenspiel von „Hotel Modern“ per Handkamera auf eine Leinwand projiziert – ein kleiner Geniestreich.
Wie die unsichtbare Hand Gottes sichtbar wird
Ein großer Geniestreich folgt sogleich, wiederum dank der holländischen Puppenspieler, die Regisseurin Lotte de Beer gebeten hat, ihre Inszenierung von Rossinis „Moses in Ägypten“, gezeigt im Festspielhaus, mit ihren Ideen zu bereichern. Der Kunstgriff, der dadurch entsteht, ist phänomenal. Denn wie soll man nur die unsichtbare Hand Gottes sichtbar machen, der in diesem alttestamentarischen Stoff als allmächtige Kraft allerhand Plagen über Ägypten verhängt? Der das Heer der Pharaonen schließlich im Roten Meer ertrinken lässt, das zuvor für die flüchtenden Israeliten wie durch ein Wunder zurückgewichen war? Nun, die Hand des Allmächtigen wird hier für jeden im Publikum wahrnehmbar. Denn lenkt der Herr Israels nicht das Geschick seines Volkes? Dieser Gott scheint mit den Menschen fürwahr zu spielen, er mischt sich ein, ergreift Partei, er wird, nun in der Sprache des Theaters ausgedrückt, zum Spielmacher, ja zum Regisseur des Auszugs Israels aus der Versklavung in Ägypten.
Sandalenfilm und Puppenspiel ergänzen sich trefflich
Dazu erleben wir die Geschichte zweimal, in parallel geführten und mitunter zusammengeführten Handlungssträngen. Die Sänger mimen ihre Figuren wie in einem Sandalenfilm und Historienschinken, die Puppenspieler setzen die Aktion der Sänger in Gang und kommentieren sie mit all ihren liebevoll gefertigten kleinen Figürchen, die wir mittels der Kameravergrößerung ganz genau verfolgen können.
Der Mehrwert ist vielsagender als jede plumpe Aktualisierung des Regietheaters. Denn die Assoziationen etwa zu den zerstörten Städten Syriens oder zu den Flüchtlingsströmen übers Mittelmeer stellen sich durch das zeitlose Puppenspiel wie selbstverständlich her. Feinhumorige Pointen am Rande stellen sich zudem ein, als die vier Künstler von „Hotel Modern“ sich immer dann in die Beobachter-Perspektive zurückziehen, wenn es zwischen Pharaonensohn Osiris und Hebräerin Elcia um deren private Liebeshoffnung geht. Fühlt sich Gott für derlei komplexe Fragen einfach nicht zuständig?
Jede Farbe und jede Faser der grandiosen Musik wird fein ausgehört
Musiziert wird Rossini unerhört inspirierte Partitur im übrigen vom Allerfeinsten. Goran Jurić leiht dem Moses seine geschmeidig belcanteske Basswucht, Andrew Foster Williams dem Pharao baritonvirile Beweglichkeit, Mandy Fredrich seiner Gemahlin Amaltea koloratursprühende Soprantöne, Sunnyboy Dladla deren Sohn Osiris seinen hell, allerhöchsten Rossinitenor. Clarissa Costanzo aber als heimliche Geliebte des Pharoensprosses ist die Entdeckung des Abends. Ihre mezzodunkler Sopran hat viel von der Agilität und Wärme einer Joyce DiDonato. Enrique Mazzola lotet mit den Wiener Symphonikern jede Farbe und jede Faser der grandiosen Musik aus. Eine Rossini-Erfüllung fast vom Range des Festivals von Pesaro. Die Oper Köln übernimmt die Produktion aus Bregenz im April 2018 in großteils neuer Besetzung.
Bregenzer Festspiele
Rossini: Moses in Ägypten
Ausführende: Enrique Mazzola (Leitung), Lotte de Beer (Regie), Hotel Modern (Theaterkollektiv / Puppenspiel), Christof Hetzer (Bühne & Kostüme), Olaf A. Schmitt (Dramaturgie), Andrew Foster Williams, Mandy Fredrich, Sunnyboy Dladla, Clarissa Costanzo, Taylan Reinhard, Goran Jurić, Matteo Macchioni, Dara Savinova, Wiener Symphoniker, Prager Philharmonischer Chor