Vor dem Säulenportikus des Theater Duisburg – das Haus zählt zu den Wahrzeichen der Stadt – spannt sich ein Banner, das an den achten Mai 1945 erinnert, jenes Datum, das Richard von Weizsäcker den „Tag der Befreiung“ zu nennen wagte. Der Premierentermin von Paul Abrahams „Lustspieloperette“ ist daher symbolisch, er verbindet sich mit dem „Kosmos Jüdische Musik“, einer Konzertreihe der Deutschen Oper am Rhein. Mit dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erhielt das Fluidum von Internationalität und zur Anarchie tendierender Heiterkeit, wie es das musikalische Unterhaltungstheater Paul Abrahams dem deutschsprachigen Publikum servierte, eine neue Chance.
Freilich währte der Weg dahin – eingedenk der Verkitschung Abrahamscher Operetten in der Nachkriegszeit – Jahrzehnte. Für „Märchen im Grandhotel“ mussten der im Deutschen Reich längst drangsalierte Komponist samt seinen Stammlibrettisten Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda in die österreichische Hauptstadt ausweichen, wo das Werk im März 1934 seine glanzvolle Uraufführung erlebte. Dort lief die Novität im Theater an der Wien zwei Monate en suite, ehe austrofaschistische Umtriebe es vom Spielplan verbannten.
Kintopp und blaues Blut
Die szenische deutsche Erstaufführung am Mainzer Staatstheater im Jahr 2018, der eine halbszenische Produktion an der Komischen Oper Berlin vorausging, ebnete dem Werk eine Bahn, auf der es über Hannover, Nürnberg und Cottbus jetzt nach Duisburg und hoffentlich weiter ins Repertoire vordringt. Denn auch am Niederrhein erweist es seine Zugstück-Qualitäten: Regisseurin Michaela Dicu lässt Filmmogulstochter Marylou Makintosh wie einem Gershwin-Musical entsprungen durch Hollywoods Studios und den titelgebenden Beherbergungsbetrieb an der Riviera wirbeln, um dem zweifelnden Vater ihre Qualitäten als Nachfolgerin im Konzern zu beweisen. Flugs kreiert Marylou die Doku-Fiction, spannt dafür die von der Revolution vertriebene spanische Thronfolgerin samt deren blaublütiger Entourage ein und erwirbt so das Ticket an die Spitze des väterlichen Unternehmens. Den ohnehin kaum mehr realisierbaren Ansprüchen auf die spanische Krone entsagend, avanciert Infantin Isabella zur sich selbst spielenden Drama-Queen und besteigt den Thron der Hollywood-Diva. Durch ihre pittoresken Ohnmachtsanfälle ist sie dazu bestens qualifiziert. Wie zur Thronerbin und Filmgöttin geschaffen, verkörpert sie Sylvia Hamvasi in blasiert-selbstverliebter Walzerseligkeit. Indessen nicht, ohne dass Hamvasi „ihre“ Isabella immer wieder ironisch auf die Schippe nimmt.
Walzerselig und verrückt nach Tango
Keine Operette ohne Liebesgeschichte: Über alle Standesschranken hinweg finden sich die Diva und der vermeintliche Zimmerkellner Albert. Letzterer in Wahrheit nicht Domestik, sondern Erbe nicht nur des Etablissements an der Riviera, sondern einer veritablen Hotelkette. Bis zum Finale darf der Bürgerliche seiner höchstadeligen Angebeteten einen vokalen Schmachtfetzen nach dem anderen widmen. Freilich spielt dabei immerfort Abrahams und seiner Librettisten Ironie mit. Regisseurin Dicu kostet das weidlich aus. Gleichermaßen der seine Figur in baritonaler Tangoseligkeit badende Jake Muffett. Cornel Frey ist ein grundsympathisch-dekadenter Prinz Andreas Stephan. Der Verflossene der Infantin lebt in den Tag hinein. Man weiß nicht so recht, wozu er da ist. Macht aber nichts, das ist beim Adel ohnehin der Fall. Frey jedenfalls leiht ihm seinen eleganten Tenor.
Marylou hingegen agiert zielführend, dabei keineswegs amerikanisch großmäulig, vielmehr mit erstaunlichem Understatement in den Sprechpassagen. Wenn sie aufdreht, dann musikalisch und tänzerisch. Valerie Eickhoff bietet für die künftige Konzernchefin die vokal nötige Leichtigkeit des Seins auf. Dem famos steppenden Ballettensemble verhilft dazu Kati Farkas‘ und Emma Kate Nelsons rasante Choreografie.
Optische Mondänität bietet Rifail Ajdarpasics detailverliebte Bühne. Die Drehscheibe eröffnet in munterem Wechsel vom Art déco bestimmte Einblicke in Stiegenhaus, Suite der Infantin und Wellnessbereich der Luxusherberge. Auch deren Kehrseite, ein trister Hinterhof, wird nicht unterschlagen. Bei Kostümbildnerin Ariane Isabell Unfried bevorzugt Marylou lässige Eleganz, während sich die Infantin in Rüschen hüllt. Aus dem Graben tönt es oft robust. Sicher, Abrahams Partituren lassen viele Fragen offen, aber der Sound ist am Premierenabend häufig zu schmissig. Doch kein Zweifel, im Verlauf der Aufführungsserie wird Stefan Klingele mit den Duisburger Philharmonikern an Raffinement und Delikatesse zulegen.
Deutsche Oper am Rhein (Duisburg)
Abraham: Märchen im Grand Hotel
Stefan Klingele (Leitung), Michaela Dicu (Regie), Rifail Ajdarpasic (Bühne), Ariane Isabell Unfried (Kostüme), Kati Farkas (Choreografie), Emma Kate Nelson (Steppchoreografie), Guido Petzold (Licht), Sylvia Hamvasi, David Jerusalem, Cornel Frey, Carmen Fuggiss, Benny Meisenberg, Stefan Heidemann, Joachim Gabriel Maaß, Jake Muffett, Torben Jürgens, Valerie Eickhoff, Julie Marszalkowski, Florian Wugk, Jakob Kleinschrot, George Clark, Dashuai Jiao, Andrea Buret, Saskia Heming, Emma Kate Nelson, Charlotte Spahn, Tiziano Edini, Ivan Keim, Pascal Schürken, Maximilian Vogel, Duisburger Philharmoniker