Das hochadelige Stadtpalais des ersten Aktes erinnert geradezu verdächtig an Otto Schenks Inszenierung jenes Operetten-Klassikers, der seit dem Jahres 1900 in der Tat ohne Unterbrechung zu jedem Silvesterfest auf dem Spielplan der Wiener Staatsoper steht. Der Tanz auf dem Vulkan einer seinerzeit schon abgewirtschafteten, bald offiziell abgeschafften Donaumonarchie wird dort von Jahreswechsel zu Jahreswechsel weitergetanzt, immer nostalgischer und wehmütiger: Ist die gute alte Zeit des Standesdünkels und des ach so herzigen Habsburger Weltreichs denn wirklich vorbei? Mann muss schon ein parsifalesk reiner Thor sein, um bei diesem Augenzwinkern des regieführenden Tenors Rolando Villazón nichts Böses zu ahnen.
Opas Operette als intelligent absurdes Spiel der Zeiten und Zitate
Denn natürlich kann und wird es so nicht weitergehen in Villazóns Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin. Schließlich sitzt ein Barrie Kosky bei der Premiere im Zuschauerraum, der in der deutschen Hauptstadt ein für alle Mal klargemacht hat, wie frech und frei man sich heute der Zeitgenossenschaft von Opas Operette zu versichern hat. Seine Komische Oper Berlin ist zum heimlichen Mekka einer modernen Auseinandersetzung mit der lange im Verruch des Reaktionären befindlichen Gattung geworden. Villazón dreht die Zeit nun also nicht zurück, aber er spielt mit dem Thema Zeit mindestens so intelligent und mindestens so durchgeknallt, wie Kosky das an der Behrenstraße so furios tut.
Am Wagner- und (Richard) Strauss-Haus an der Bismarckstraße ist der Paradigmenwechsel eben nur ein deutlich größerer als im einstigen leichtmusikalischeren Osten. Denn bei aller neuen Durchmischung des Gesamtberliner Opernpublikums spürt man zumal auf den guten Plätzen doch immer noch den Rest einer gemütlichen Charlottenburger Bürgerlichkeit. Es gibt sogar leise protestierende Zwischenrufe aus dem ersten Rang, wann denn der Blödsinn im dritten Akt endlich aufhöre, und entrüstete Buhs am Ende, als Villazón und sein Team auf die Bühne kommen.
Villazón impft das Ensemble mit dem Virus der Maximalmotivation
Dabei hat der Wahnsinn, den Rolando Villazón hier im Laufe des Abends immer deutlicher an den Tag legt, sehr viel Methode. Die manische Energie des Tenors, der ohne Unterlass reden und schwelgen kann, hat das herrliche Sängerensemble und den fantastisch spielfreudigen Chor wunderbar entfesselt. Man möchte dabei gewesen sein, wie er in den Proben über die Bühne getobt sein muss, um wirklich jeden Einzelnen mit dem Virus seiner Maximalmotivation zu impfen. Das ist Villazón grandios gelungen.
Vitale letzte Zuckungen des Hedonismus
Salvador Dalís zerfließende Uhr hat ihm Bühnenbildner Johannes Leiacker an die Stelle des Souffleurkasten gebaut – Zeichen nicht nur einer verfließenden, verflossenen Epoche, die hier in ihren letzten sehr vitalen Zuckungen noch einmal heraufbeschworen wird, sondern auch der archetypischen, allgemein menschlichen Schwächen, die hier verhandelt werden. Vom Neandertaler, über den heimlichen, für kurze Frist möglichen sozialistischen Berliner Hedonismus während der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts bis zum emotionsfreien Roboter einer gar nicht fernen Zukunft reichen die denkbar riesigen Zeitsprünge seines Regiekonzepts. Die Drehbühne macht’s möglich, dass die sehr bewussten Brüche mit spielerisch leichter Hand gekittet werden und uns am Ende gar nicht mehr komisch vorkommen, obwohl der Abend immer saukomischer, klamottiger und überdrehter gerät.
Das Spiel von Schein und Sein, von Lüge und Liebe
Wer genau hinschaut, entdeckt schon im scheinbar konservativ inszenierten ersten Akt die feinen ironischen Überpitzungen, freut sich am Hinterfragen von Identitäten, dem Spiel von Schein und Sein, von Lüge und Liebe. Im Ostberliner Maskenball des zweiten Akts dreht Villazón diese Schraube dann deutlich an, im dritten überdreht er sie ins Absurde.
Die „Orbital-Justizvollzugsanstalt Johann Strauß“ als Science Fiction-Persiflage und Planet der Affen-Verwurstung ist nicht nur augenzwinkernde Referenz an die gescheiterten Operninszenierungen einer prominenten Filmregisseurin, sie rettet die Operette auch im hoch intelligenten Klamauk, in dem die schalen alten Witzchen, die Gefängniswärter Frosch vom Sliwowitz macht, nur mehr als ferne intergalaktische Erinnerungsfetzen erscheinen. Das Stück ist und bleibt eine Farce, die Villazón mit solch einer auch handwerklichen Perfektion wiederbelebt, dass hier so etwas wie ein echter Long-Run-Regieklassiker entstanden sein dürfte.
So forsch und federnd hat man die Ouvertüre selten gehört
Donald Runnicles beweist am Pult des glänzend aufgelegten Orchesters der Deutschen Oper Berlin, warum das Stück Chefsache sein muss. Der Generalmusikdirektor mischt dem Wiener Schmäh und tänzerischen Esprit der Partitur einige Pariser Offenbach-Eleganz und Salzburger Mozart-Durchsichtigkeit bei. Er trägt den Temporeichtum der Regie in absoluter Überzeugung mit, umarmt Villazón zum Schlussapplaus von Herzen.
Musik und Szene greifen ideal ineinander. Gleich drei Tenorkollegen führt Villazón zu Spitzenleistungen: Thomas Blondelle als Eisenstein, Jörg Schörner als Blind und Enea Scala als Alfred. Letzterem gehört die besondere Sympathie Villazóns. Er darf das Tenorsein im allgemeinen wunderbar auf die Schippe nehmen und dazu nahezu das ganze italienische Repertoire zitieren, vom Traviata-Alfredo (sic!) bis zu Puccinis Rodoldo, Pinkterton und Cavaradossi. Kavaliersbaritonschmelzend singt Thomas Lehmann den Falke, soubrettenvirtuos Meechot Marrero die Adele, sopranreif Annette Dasch die Rosalinde.
Deutsche Oper Berlin
J. Strauss: Die Fledermaus
Donald Runnicles (Leitung), Rolando Villazón (Regie), Johannes Leiacker (Bühne), Thibault Vanraenenbroeck (Kostüme), Thomas Blondelle, Annette Dasch, Markus Brück, Angela Brower, Enea Scala, Thomas Lehman, Jörg Schörner, Meechot Marrero, Kathleen Bauer, Florian Teichtmeister, Samir Dib, Orchester und Chor der Deutschen Oper Berlin
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