Als Donald Runnicles an diesem Abend den wagnergemäß gefüllten Graben in der Deutschen Oper betrat, empfing ihn besonders herzlicher Beifall. Von den 770 besetzten der 1860 Plätze im Saal. Vorschusslorbeeren nach der pandemiebedingten Zwangspause gewissermaßen. Auch am Ende war der Applaus für ihn und sein Orchester herzlich, wenn auch nicht euphorisch. Sie hatten für einen sinnlich satten, die Sänger umschmeichelnden Grundton gesorgt. Mehr ersehnten Wagner-Wonnemond geliefert, als Winterstürme aufgeraut und zugespitzt.
Das künftige Zentralgestirn am Himmel der Wagner-Heroinen strahlt in Berlin
Wobei vor allem die junge Lise Davidsen ihren Ruf als das künftige Zentralgestirn am Himmel der Wagner-Heroinen mit dieser Sieglinde bestätigte. Sie vermittelte den Eindruck, dass sie sich selbst in ihren dramatischsten Ausbrüchen noch zurückhielt. Ihr zu lauschen ist ein Genuss. Vor allem dann, wenn sie nicht die Ausnahme im Ensemble ist, sondern einem intensiven Siegmund wie Brandon Jovanovich begegnet und von einer Brünnhilde wie Nina Stemme vor der Wut des Göttervaters in Sicherheit gebracht wird. Stemmes Brünnhilde bezieht ihre leuchtende vokale Glaubwürdigkeit aus einer kraftvollen Eleganz, die sie mit technischer Erfahrung flankiert, wenn es für sie heikel werden könnte. Andrew Harris ist ein eher dominierend auftrumpfender, als dunkel dräuender Hunding. Annika Schlichts vokale Überzeugungskraft wird von ihrer optischen Präsenz als elegant weißgekleidete Fricka noch übertroffen. Dass John Lundgren sich voll in seinen insgesamt überzeugenden Wotan wirft, bezahlt er am Ende mit einer leichten Konditionsschwäche. Von den Walküren nimmt jede einzelne ihren Beitrag als solistische Herausforderung – kurzum musikalisch ist der Abend auf einem Niveau, wie man es man von einem Hauptstadtopernhaus mit langer Wagnertradition erwarten darf. Kleinere Abstriche kommen aus der Rubrik „Meckern auf hohem Niveau“.
Dass man das Haus dennoch nicht so überwältigt verlässt, wie man es gerne würde, noch dazu wenn Stefan Herheim der Regisseur des gesamten „Ring“-Projektes ist, liegt nicht an der Maskenpflicht auch während der Vorstellung – die ist auszuhalten. Und auch nicht an etwaigen anticoronabedingten Ausdünnungen oder hinein inszenierten Abständen beim Personal auf der Bühne. Dem ist man durch Dauertesten (an der Bismarckstraße hat man offenbar die Salzburgerfahrungen berücksichtigt) beherzt ausgewichen. Damit kann Herheim in dieser Hinsicht geradezu antizyklisch zum Zeitgeist der Abstandsregeln inszenieren.
Ein Bild aus dem kollektiven Gedächtnis
Gleich mit dem ersten Bild gelingt ihm ein Moment der Verblüffung. Das Koffergebirge, das er sich diesmal als sein eigener Bühnenbildner (gemeinsam mit Silke Bauer) errichten ließ, erinnert an jene Toteninsel, mit der sich Patrice Chéreaus Bayreuther Jahrhundert-„Ring“ auch nach Jahrzehnten noch sofort ins kollektive Gedächtnis der Wagner-Gemeinde rufen lässt. Als Utensil für den unbehausten, suchenden, fliehenden Menschen hat der Koffer den Rang einer metaphorischen Keimzelle des Regietheaters. Bei Herheim feiert er als Massenphänomen Urstände. Was mindestens zweimal zur Steilvorlage für einen – für sich genommen – beeindruckenden Bühneneffekt wird. Das erste Mal, wenn die Winterstürme dem Wonnemond weichen, die festgefügte Kofferwand einstürzt und einem gewaltigen, projizierten Frühlingsflirren Platz bietet. Was dann allerdings zu einem Riesenmond und einem finster dreinblickenden Wolfsgesicht mutiert. Mit einer gelegentlich platten Direktbebilderung („ein Wolf war er feigen Füchsen“) hat der Regisseur offensichtlich kein Problem. Das zweite Mal regen sich die Koffermassen, nicht ganz so zwingend, aber noch sinnverdächtig, wenn während der Todesverkündigung die Schwerkraft aussetzt und ganze Kofferwolken langsam gen Schnürboden entschweben. So wie Siegmund, laut Brünnhildes Auftrag, der Welt der Lebenden gen Walhall entschweben soll.
Hegt Herheim ein Grundmisstrauen gegenüber der Wirkungskraft von Wagners Musik?
Spätestens da aber ist dieser Effekt auch Teil des Grundproblems von Stefan Herheims Inszenierung. Der Treibstoff für das Aufsteigen der Kofferwolken ist nämlich der gleiche, der die meisten – für sich genommen originellen – Einfälle zu Bühnenehren bringt. Was in Gestalt ungezügelter Fantasie daherkommt, könnte man ebenso als ein notorisches Grundmisstrauen gegenüber der Wirkungskraft von Wagners Musik diagnostizieren. Von den Protagonisten wird durchweg mehr gemacht, als nötig. Was bei aller sinnvollen Intensität auch zu einem permanenten Überangebot an großen Operngesten führt. In diesem Aktionismus setzt Siegmund dann auch schon mal ein Messer an Hundings Kehle. Daneben sind fast immer mehr Leute auf der Bühne, als vorgesehen und mitunter auch sinnvoll. Sieglinde und Hunding hat die Regie sogar einen „Hundingling“ angedichtet. Der bewegt sich zumindest zurückgeblieben, ist aber zu Gefühlen fähig, wird vom Vater misshandelt, von Siegmund mit einem Teddy und Aufmerksamkeit bedacht. Sieglinde wiederum kommt hier nur dadurch von Hunding los und in Siegmunds Arme, indem sie dem Burschen die Kehle durchschneidet. Ganz so, als ob ihre Traumatisierung wegen des Ehebruchs und des Inzestes nicht schon genug wäre. Der Gemeuchelte findet sich dann später unter den Toten, die die Walküren einsammeln (wobei der natürlich kein Held ist). Dass er sich als Zombie an der Kindsmörderin rächen will, ist nachvollziehbar, dass ihn zwei Walküren davon abhalten und vertreiben, nun ja.
Wenn tote Helden ihre Ausbilderinnen vergewaltigen: Ist da ein Herrscher am Werk, der einen Putsch von oben forciert?
Mit der Intimität von Zweisamkeit ist es eh nicht weit her auf den Kofferhöhen, in deren Tälern und zwischen ihren Trümmerfeldern. Bei den Walküren und ihren eingesammelten toten Helden kann man sich ansatzweise noch einen Reim drauf machen. Die sind ja als Rekruten für eine Wotans-Garde gedacht. Hier setzt der Gott diesen Plan, zu dessen Umsetzung es normalerweise nie kommt, probeweise mal tatsächlich um. Er lässt zu, dass die blutverschmierten Zombies gegen ihre Ausbilderinnen und Führerinnen putschen, deren Helme und Speere übernehmen, sich für die Strafaktion gegen Brünnhilde direkt Wotans Befehl unterstellen und dann obendrein auch noch mit dessen Billigung, die Walküren ihres Sonderstatus’ berauben, indem sie die kriegerischen Frauen ganz „menschlich“ vergewaltigen. Ein Herrscher, der das Ende will und vorher noch einen Elitenaustausch, quasi einen Putsch von oben, forciert? Das ist so einer von den Gedanken, über die sich nachdenken und diskutieren ließe. Mit dem Blick aufs Ganze dieses „Ring“-Teils kann man das, muss es aber nicht.
Der Bezug zur Zeitgeschichte bleibt Stichwort
Die stilbildenden Koffer sind aber nicht nur die Bausteine. Sie kommen auch als solche zum Einsatz. Als ein weidlich überstrapaziertes Requisit, das lange Zeit auf den Bühnen für Flucht im Allgemeinen stand. So wie heutzutage überladene Boote und organgene Schwimmwesten. Wenn zu diesen Kofferträgern auf der Flucht auch Menschen aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts gehören, die sich eingeschüchtert aber geordnet bewegen und ihre Kinder dabei haben, dann ist diese Metaphorik ein ziemlich schweres Assoziationsgeschütz und nicht nur ein Bild so ganz im Allgemeinen. So wie das Koffergebirge dann plötzlich auch. Dieser Bezug zur Zeitgeschichte bleibt aber einfach so als Stichwort im Raum stehen. Oder Rumliegen.
Selbstreferentielle Verfremdung
Als zweites zentrales Requisit steht in der Mitte der Bühne ein Konzertflügel. Aus dem die Protagonisten – wie in Koskys grandiosen Bayreuther „Meistersingern“ – auftauchen oder in dem sie verschwinden können. Auf dem Pult liegt die Partitur der Oper, in der wir uns befinden. Irgendwie hat Wotan in Ermangelung eines Baumstamms hier auch das Schwert für seinen Sohnemann deponiert. Als Sieglinde zu Beginn daran scheitert, dem Instrument Töne zu entlocken, mag das noch für ihre Fremdheit in Hundings Welt stehen. Aber das Instrument steht für einen weiteren Deutungszugang. Das Stück, das wir auf der Bühne sehen, wird im Prozess seiner Entstehung aus der Musik gleichsam kommentierend vorgeführt. Also eine Art selbstreferentielle Verfremdung, die dann aber der Erzählung selbst immer wieder in die Quere kommt.
Und weitere Referenzen an die Wagner-Rezeptionsgeschichte
Dass diese Menschen mit den Koffern immer dann als direkte Zuschauer die Bühne bevölkern, wenn eigentlich Familienstreit (Wotan mit Fricka) oder intime Zwiegespräche (Wotan mit seiner Lieblingstochter Brünnhilde im Selbst-Gespräch oder beim Abschied) auf dem Programm stehen, ist schlechterdings nur mit einem ausgeprägten Horror vacui der Regie erklärbar. Geradezu absurd wird deren gestisch anteilnehmende Anwesenheit im Schlussbild mit den Flammenprojektionen auf albernen, dilettantisch wirkenden weißen Rundhorizonttüchern. Nimmt man den Feuerzauber – Wotan hat Loge offenbar in seiner Speeres-Spitze immer wie ein Feuerzeug dabei, dann sind sie jetzt allesamt vom Feuer eingeschlossen. Wenigstens sind diesmal die Kinder nicht mehr dabei. Und außerdem kriegen sie dadurch hautnah die Geburt Siegfrieds mit. Im Konzertflügel mit einem Mime, in Richard-Wagner-Maske als Hebamme(rich?). Ob ihnen diese Pointe auf ihrer Dauerflucht was nützt? Man wird sehen, was Herheim noch so für Referenzen an die Wagner-Rezeptionsgeschichte in seinem eigenen Köfferchen bereit hält. Ob wohl auch eines der Krokodile vom Alexanderplatz dabei ist?
Deutsche Oper Berlin
Wagner: Die Walküre
Donald Runnicles (Leitung), Stefan Herheim (Regie & Bühne), Silke Bauer (Bühne), Uta Heiseke (Kostüme), Ulrich Niepel (Licht), William Duke & Dan Trenchard (Video), Alexander Meier-Dörzenbach & Jörg Königsdorf (Dramaturgie), Brandon Jovanovich, Andrew Harris, John Lundgren, Lise Davidsen, Annika Schlicht, Nina Stemme, Flurina Stucki, Aile Asszonyi, Antonia Ahyoung Kim, Irene Roberts, Ulrike Helzel, Karis Tucker, Nicole Piccolomini, Beth Taylor, Eric Naumann, Orchester der Deutschen Oper Berlin