Für interessante literarische Vorlagen hat der Italiener Giorgio Battistelli (*1953) eine Vorliebe. Ob nun William Shakespeare („Richard III.“ in Antwerpen 2005) oder Ernst Jünger („An Marmorklippen“ in Mannheim 2002). Berührungsängste plagen ihn jedenfalls nicht. Für die jüngste Uraufführung an der Deutschen Oper Berlin ist es die schillernde italienische Legende Piere Paolo Pasolini (1922-1975). Von dessen Buch bzw. Film „Teorema“ hatte sich der Komponist vor über 30 Jahren schon einmal – als Auftrag von Hans-Werner Henze für die Münchner Biennale – zu einer Komposition anregen lassen. Mit Pasolini beschäftigt er sich schon seit 50 Jahren. Im Programmheft berichtet Battistelli von einer Begegnung mit Pasolini, bei der jener die (heute seltsam wirkende Frage), ob der Gast in „Teorema“ ein kommunistischer Funktionär sei, ziemlich eindeutig beantwortet: „Nein. Denke ihn dir als einen Engel, der vom Himmel gekommen ist. Einen Engel der Vernichtung.“
Auslöser für den Anfang vom Ende
Dass er den jungen Mann, dessen erotisches Charisma ausreicht, um in einem großbourgeoisen Haushalt nacheinander die Haushälterin, den Sohn, die Tochter, die Mutter und dann auch noch den Vater (zum Teil gegen ihre bis dahin für unerschütterlich gehaltenen sexuellen Identitäten) zu verführen, so charakterisiert, mag auch einem Zeitgeist geschuldet sein, für den homoerotische Neigungen ebenso abseits des offen Praktizierbaren lagen wie die Tolerierung eines gelegentlichen Seitensprungs im Rahmen einer bürgerlichen, vielleicht sogar katholisch geschlossenen Ehe. Pasolini selbst hatte wegen öffentlicher Homosexualität 1949 seinen Job als Lehrer verloren und wurde obendrein aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen!
Nimmt man den „Engel der Vernichtung“ (der irgendwie nach Walter Benjamins Engel der Geschichte klingt) nicht in erster Linie als erstaunlich vielseitige, personifizierte erotische Irritation, sondern als den Auslöser für den Anfang vom Ende einer bourgeoisen Werteordnung, dann wird der eskalierende Zusammenbruch aller einzelnen Existenzen, der Familie und damit der Gesellschaft nach der Abreise des Fremden zur logischen Konsequenz.
Verführung als wissenschaftlicher Laborversuch
Das Inszenierungsteam Dead Centre (Ben Kidd und Bush Moukarzel) macht aus der Tatsache, dass man die Konstellation um den geheimnisvollen Besucher, der alle verführt, damit sie und ihre Beziehungen untereinander verändert und so die Fliehkräfte in dieser Modell-Gruppe einer bourgeoisen Gesellschaft freisetzt, als eine Art Laborversuch sehen kann, zum Rahmen für ihre Inszenierung. Wie auf dem Display eines PC werden die relevanten messbaren Details für das Geschehen in jeder Szene angezeigt.
Eine Gruppe von Wissenschaftlern wuselt mit den entsprechenden Ausrüstungen und in den weißen Schutzanzügen der Spurensicherung vor den Zimmern herum, die sich jeweils wie in einem Zoom öffnen und wieder schließen. Das Wohnzimmer mit dem Esstisch für die sich anschweigende Familie, die Küche, das Schlafzimmer des Sohnes oder der Eheleute, die Terrasse usw. Die beobachtenden Einblicke folgen der Szenenfolge. Mal tauchen die Zimmer einzeln auf, dann über die Breite der Bühne hintereinander, eins neben dem anderen. Im zweiten Teil sieht man dann alle Zimmer auf einmal.
Das Orchester ist in glänzender Form
Am Pult des Orchesters der Deutschen Oper steht der GMD des Staatstheaters Darmstadt Daniel Cohen, für den das vertrautes Terrain ist. Er war hier von 2015 bis 2017 Kapellmeister. Das Orchester ist in glänzender Form, spielt stets mit Augenmaß dosiert auf, vermag vor allem die atmosphärische Spannung dieser über weite Strecken sinnlichen, langsam atmenden Musik zu halten. Das Orchester behält mit pulsendem Raunen, das sich langsam aufbaut und auch wieder abflaut, allemal die Oberhand über das Atmosphärische, aber die Akteure treiben die Handlung voran. Wobei die Figuren in der dritten Person von sich reden, man also einer Form begegnet, wie sie im Schauspiel bei den allfälligen Dramatisierungen von Romanvorlagen üblich ist, wenn die Akteure gleichsam über sich selbst und von ihrem Handeln erzählen. Dass Battistelli den vokalen Part vom gesprochenen Wort zum Sprechgesang und Formen des Deklamierens komponiert, führt zu einem ganz eigenen Sound, der den Zuschauer in das Geschehen bzw. die Stimmung hineinzieht.
Im zweiten Teil, wenn der geheimnisvolle Besucher wieder verschwunden ist und alle auf sich selbst zurückgeworfen sind, wechselt der Blick. Man sieht jetzt wie im schwarz-weiß Gegenlicht alle Zimmer neben- und übereinander wie in einem Setzkasten auf einen Blick.
Nackt in die Wüste
Dass jetzt die „Wissenschaftler“, also die singenden Protagonisten, die bis dahin für sie agierenden Schauspieler-Alter-Egos ersetzen und nicht nur selbst singen, sondern auch spielen, könnte den point of no return markieren, der mit der Abreise des Gastes einen nicht mehr korrigierbaren Weg in den Abgrund unübersehbar macht. Mit immer surrealeren Bildern. Etwa, wenn Emilia wie eine Heilige gen Himmel entschwebt. Lucia sich in wilde Sexabenteuer stürzt, Pietro den bildenden Künstler in sich entdeckt und das (irgendwo zwischen Jackson Pollock und Yves Klein) auslebt. Und als Höhepunkt Paolo schließlich nackt in die Wüste zieht und uns mit einem Urschrei des Alleinseins entlässt.
Der Logik des Plots entsprechend sind fünf der sechs durchweg exzellent und mit intensivem Ausdruck singenden Protagonisten mit (dank Ausstatterin Nina Wetzel im Habitus ähnlichen) Schauspieler-Alter-Egos versehen. Bei der dramatischen Ángeles Blancas Gulin als Lucia ist es Paula D. Koch. Beim letztlich am tiefsten in seinen Gewissheiten erschütterten, hochsouveränen Davide Damiani als Paolo doubelt Christoph Schlemmer. Der junge Pietro von Andrei Danilov hat sein stummes Pendant in Eric Naumann. Die als dessen Schwester Odetta wunderbar nervös aufdrehende Meechot Marrero in der Schauspielerin Nelida Martinez. Die etwas unheimliche Emilia wird von Monica Bacelli ebenso überzeugend gesungen, wie sie von Doris Gruner gespielt wird. Nur den Gast, den „Ospite“, gibt es in Gestalt von Nikolay Borchev nur einmal
Selbstbefreiung oder Selbstvernichtung?
Ob man nun einem Laborversuch oder der Geschichte einer großen Verführung zu sich selbst, einer Verunsicherung oder Apokalypse im Kleinen, eine Selbstbefreiung oder Selbstvernichtung beigewohnt hat, kann man gar nicht so genau sagen. Die Inszenierung verdrängt die offenen Fragen nicht, die Battistelli von Pasolini übernommen und in eine andere, nämlich die musikalische Dimension erweitert hat. Aber sie maßt sich auch nicht an, die Antworten zu kennen. Und das ist gut so! Der Beifall war einhellig!
Deutsche Oper Berlin
Giorgio Battistelli: Il Teorema di Pasolini (UA)
Daniel Cohen (Leitung),Dead Centre (Regie), Nina Wetzel (Bühne & Kostüme), Sébastien Dupouey (Video), Stephen Dodd (Licht), Benjamin Schultz (Klangdesign), Ángeles Blancas Gulin, Paula D. Koch, Davide Damiani, Christoph Schlemmer, Andrei Danilov, Eric Naumann, Meechot Marrero, Nelida Martinez, Monica Bacelli, Doris Gruner, Nikolay Borchev, Orchester der Deutschen Oper Berlin