Neugierig erwartet, sehnsüchtig entgegengefiebert: Nach Jahrzehnten sollte in dieser Spielzeit an der Deutschen Oper Berlin ein neuer „Ring des Nibelungen“ an den Start gehen, inszeniert vom international umjubelten Regisseur Stefan Herheim. Insofern stand die für Juni angesetzte „Rheingold“-Premiere auf der Liste der großen Ereignisse im musikalischen Berlin. So war es geplant. Dann kam Covid-19. Der Beginn der „Ring“-Produktion am Haus musste auf die nächste Spielzeit verschoben werden. Doch ganz geschlagen wollten Intendant Dietmar Schwarz und sein Team sich nicht geben. Mit einer Erlaubnis des Berliner Senats vor gut zehn Tagen wurde kurzfristig eine alternative „Rheingold“-Version gestemmt. Als Aufführung unter freien Himmel, unter Beachtung von Hygiene- und Abstandsregeln.
Wagner mit Spatzen- und Amselkommentaren
Ort der Veranstaltung mit 175 Zuschauern pro Vorstellung: Das obere Parkdeck im weiträumigen Innenhof zwischen den Garderoben- und Magazintrakten der Deutschen Oper, mit dem Charme eines Industriegeländes, was ja durchaus zum „Rheingold“-Sujet passt. Hier wurden zwei Bühnenrampen aufgebaut, oberhalb sitzt das Orchester, fünf breite Treppenstufen davor ist die Szene. Gefühlt herrscht Sommerfestival-Atmosphäre, mit Spatzen- und Amselkommentaren im Hintergrund und erfreulich leisen Verkehrsgeräuschen aus der Ferne.
In Jonathan Dove’s Fassung des Rheingold für Kammerorchester bleiben von den rund 80 Instrumentalisten noch 18 übrig.
Um die Abstandsregeln im Orchester zu wahren, wurde findig eine Kammerfassung des „Rheingold“ von 1990 herangezogen. Entstanden im schon lange vor dem Brexit vielerorts finanziell prekär ausgestatteten britischen Theaterbetrieb, damit Tourneeensembles Wagner spielen können. Erstellt hat diese Version damals der Komponist Jonathan Dove, hierzulande bekannt durch seine Oper „Marx in London“, vor eineinhalb Jahren in Bonn uraufgeführt. In Doves Fassung des „Rheingold“ für Kammerorchester bleiben von den rund 80 Instrumentalisten noch 18 übrig. Die Deutsche Oper hat auf 22 aufgestockt. Zudem gibt es Kürzungen: Das geheuchelte Liebesgeplänkel der Rheintöchter aus der ersten Szene ist gestrichen, ebenfalls der gesamte Beginn der Szene in Nibelheim, die Figur des Mime tritt gar nicht erst auf. Auch der Gott Froh ist weggefallen. Solche Einschnitte werden ja von Puristen als Tabu betrachtet, doch überraschenderweise übersteht das durchkomponierte Musikdrama Wagners die Schnitte unbeschadet. Die Eingriffe sind praktisch nicht zu hören. Alles fließt. Und funktioniert sehr gut. Auch die wagnerschen Mischfarben werden weitgehend beibehalten, so gerät das Klangbild nicht holzschnittartig, sondern farbenreich, atmosphärisch, mit Körper, die Linien treten markant hervor. Eine Auswahl des Orchesters der Deutschen Oper und Generalmusikdirektor Donald Runnicles machen es möglich. Insgesamt bietet sich also die Chance, die Musik neu zu hören, bisher zugedeckte Details zu finden.
Fast die komplette Herheim-Besetzung steht auf der Bühne des Parkdecks
Und naturgemäß werden an keiner Stelle die Sängerpartien von den Orchestergewalten überspült. Außer dem Alberich und der Woglinde steht die Sängerbesetzung der ursprünglich geplanten „Rheingold“-Inszenierung auf der Bühne, allesamt Kräfte des Hauses. Man spürt dem Ensemble nach Wochen des Lockdown und des Streaming die Spielfreude an, der Funken springt sofort über. Die drei Rheintöchter ergänzen sich mit Strahlkraft aufs Beste. Philipp Jekal als Alberich gibt das zupackende Theatertier. Annika Schlicht verleiht ihrer Fricka klare Linie und kristalline Höhen, Flurina Stucki als Freia überzeugt mit energetischem Ausdruck, Padraic Rowan zeigt als Donner Charakter. Überragend sind vor allem Derek Welton, der seinen Wotan schlank, wendig und gleichzeitig mit genügend Kernigkeit gestaltet, und Thomas Blondelle als expressiver, nonchalant quirliger Loge.
Launiger Kommentar auf Machtverhältnisse im Theaterkosmos
Die Produktion, „halbszenisch“ laut Programmbroschüre, hat in kürzester Zeit der Oberspielleiter der Deutschen Oper Neil Barry Moss auf die Beine gestellt. Er hat auch die Kostüme kreiert, mit augenzwinkernden Anleihen an Renaissance, Empire und Disco, derart grell glitzernd – wie von jenen Bewohnern exotischer Planeten, die in den alten Folgen von Raumschiff Enterprise auftraten. Die Inszenierung präsentiert als Ausgangssituation eine Bühnenprobe des „Rheingold“, mit Wotan als Regisseur, Loge als Regieassistent und Alberich als Querulanten-Diva im Ensemble, der schon bald mit dem Regiebuch abhaut. Diese Beute fungiert als Macht verleihender Ring und ergibt zusammen mit drei goldenen Brustpanzern als Requisiten den begehrten Goldschatz – ein launiger Kommentar auf Machtverhältnisse im Theaterkosmos. Mitunter wird der gesamte große freie Raum des Parkdecks genutzt, Alberich singt auch mal aus dem Fenster einer Garderobe heraus, wo er Seiten aus dem gestohlenen Regiebuch reißt.
Experiment gelungen!
Auf Bühnenzauber und Lichteffekte wird verzichtet, einige Spots und die Abenddämmerung reichen. Die Personenregie gerät mitunter sowieso zu packenden Momenten: Loge entpuppt sich als Wotans Mann fürs Grobe und kann ziemlich gefährlich werden. Fasolt und Fafner geben die schmierigen Geschäftsmänner, der eine triebgesteuert, der andere kalt berechnend. Grandios wird es, wenn Erda (betörend geheimnisvoll und warmtönend: Judit Kutasi) im weißen Bühnenpelz à la Marlene Dietrich als Kontrahentin Fricka direkt gegenübersteht und sie anblitzt. Hier besteht kein Zweifel, welche der beiden wirklich Macht über Wotan hat. Auf diese Weise vermittelt sich das Drama auch auf dem Parkdeck. Das dankbare Publikum quittiert es mit begeistertem Applaus. Experiment gelungen.
Deutsche Oper Berlin
Wagner/Dove: Das Rheingold
Donald Runnicles (Leitung), Neil Barry Moss (Konzept, Szenische Einrichtung & Kostüme), Lil Avar (Bühne), Dorothea Hartmann, Patricia Knebel (Dramaturgie), Derek Welton (Wotan), Padraic Rowan (Donner/Froh), Thomas Blondelle (Loge), Markus Brück (Alberich), Andrew Harris (Fasolt), Tobias Kehrer (Fafner), Annika Schlicht (Fricka), Flurina Stucki (Freia), Judit Kutasi (Erda), Elena Tsallagova (Woglinde), Irene Roberts (Wellgunde) Und Karis Tucker (Floßhilde), Orchester der Deutschen Oper Berlin