„Die Passagierin“ von Mieczyslaw Weinberg (1919-1996) ging reichlich verspätet erst 2010 in Bregenz am Ufer des Bodensees an Land. Diese szenische Uraufführung wurde zu einem Paukenschlag. In Thüringen gibt es jetzt, nach dem Theater Altenburg-Gera 2017, bereits die zweite Inszenierung dieses Opernsolitärs. In einem Land, dem kollektive Erinnerung an den Zivilisationsbruch, der das zwanzigste Jahrhundert für immer verdunkelt, in die demokratische Erbmasse eingeschrieben ist (bzw. sein müsste), ist eine Oper, die in das Vernichtungslager der Nazis nach Auschwitz führt, immer aktuell.
Im achtzigsten Jahr der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald bei Weimar und vor dem Hintergrund der aktuellen Kontroversen um das Gedenken ist sie es in besonderem Maße. Die Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito wird diesem Anspruch am Deutschen Nationaltheater Weimar exemplarisch gerecht. Sie ist zugleich der Höhepunkt der Spielzeit und ein grandioses Ausrufezeichen hinter der vom scheidenden Intendanten Hasko Weberund seiner Operndirektorin Andrea Moses geprägten Ära.
Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen
Der Schostakowitsch-Schüler Weinberghatte nicht den Ehrgeiz, die Musiksprache des 20. Jahrhunderts zu revolutionieren. Mit seiner Musik verlässt er die theatertaugliche, hoch emotional erzählende Tonalität nicht. Sie bleibt hörbar Janáčeks „Aus einem Totenhaus“, vor allem aber seinem Mentor Schostakowitsch verpflichtet. Mit „Die „Passagierin“ kommt Weinberg aber dem Zivilisationsbruch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts so nahe, wie niemand sonst. Sie spielt zwar 15 Jahre nach Kriegsende; entscheidend sind aber die aufbrechenden Erinnerungen der überlebenden Polin Marta und der Aufseherin Lisa Anna Franz, die in die Hölle von Auschwitz führen.

Obwohl Lisa davon ausgehen muss, Marta bewusst in den Tod geschickt zu haben, begegnet sie ihr auf der Schiffsüberfahrt nach Brasilien, wo ihr Mann Walter 1960 einen Diplomatenposten für die Nachkriegsbundesrepublik antreten soll. Auf die elementare Verunsicherung der unvermuteten Wiederbegegnung folgt das bislang vermiedene Geständnis ihrer Zeit als KZ-Aufseherin ihrem Mann gegenüber und der gemeinsame Versuch der beiden, die Sache zu verdrängen. Aber bekanntlich ist ja (wie William Faulkner es auf den Punkt gebracht hat) das Vergangene nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.
Anna Viebrock kreiert einen an historischen Assoziationen reichen Einheitsraum
Genau diesen Gedanken setzt die Weimarer Inszenierung, für die Susanne Felicitas Wolf und Sergio Morabito eine eigene deutsche Übersetzung des bislang in den vielen Sprachen der Häftlinge umgesetzten Librettos von Alexander Medwedew erarbeitet haben, in einem Einheitsraum um. Anna Viebrock hat sich dafür von dem Raum inspirieren lassen, in dem in den 60er Jahren die Frankfurter Auschwitzprozesse stattfanden. Sie hat ihn aber mit einem drei Meter hohen schwarzen Farbsockel versehen, der an die berüchtigte Erschießungswand des Lagers erinnert, von der auch im Text die Rede ist. Das Überseeschiff wird nur durch eine Reling in der Höhe angedeutet und durch ein Schwanken des Bodens, das die Protagonisten imaginieren.
Blitzgescheite Schichtung der Zeitebenen
Der Clou der Inszenierung ist aber die spezifische Art, mit der die Zeitebenen geschichtet werden. Wieler fügt sogar neben jener der Überfahrt und des Vernichtungslagers eine dritte hinzu. Die Gefangenen sind hier nämlich nicht in Sträflingskleidung zu sehen, sondern in der gut bürgerlichen Kleidung der Zeit vor ihrer Deportation. Bei den SS-Leuten ist es umgekehrt. Die haben ihre schwarzen Uniformen hier längst gegen die Anzüge der bundesrepublikanischen Wohlstandswunderzeit eingetauscht.
Dadurch werden ihre Witzchen, etwa über die Juden, die „in Rauch aufgehen“, noch zynischer. Sie verbergen ihre Gesichter hinter ihren Aktentaschen, fühlen sich wie Lisa geradezu als Opfer, da sie ja „nur ihre Pflicht getan“ haben. Durch diese Verfremdung der Zeitebenen der Täter und der einen Überlebenden in ihre jeweilige „Zukunft“ und der Opfer in ihre Vergangenheit werden zwar die äußeren Insignien der Nazizeit ausgeblendet, aber das Grauen in der Maske einer bürgerlichen Normalität umso deutlicher vorgeführt. Es ist die Banalität des Bösen, die hier erschreckt.

Vokale Brillanz trifft darstellerische Intensität
Da „Die Passagierin“ ihre Überzeugungskraft aus der spürbaren Authentizität und der Verknüpfung von Opfer- und Tätererinnerung bezieht, kommen vor allem die vokale Brillanz und darstellerische Intensität von Emma Moore als Marta und Sarah Mehnert als Anna-Lisa Franz voll zur Geltung; ja werden zum szenischen Anker der in jeder Charakterzeichnung präzise ausformulierten Inszenierung. Auch Taejun Sun als Lisas am Ende opportunistischer Ehemann Walter und Ilya Silchuk als Martas Verlobter Tadeusz liefern packende Rollenporträts. Das gilt ebenso für Heike Porstein (Katja), Sayaka Shigeshima (Krystina), Kateřina Kurzweil (Vlasta), Anne Weinkauf (Hannah), Tatjana Winn(Bronka), Ylva Stenberg (Yvette), Silvia Schneider (Alte Frau) und für Oliver Luhn, Andreas Koch, Alexander Günther und Elke Sobe als SS-Personal in der Maske der Nachkriegsbiedermänner und -frauen. Dazu kommt der von Jens Petereit einstudierte Chor – er leistet hier auch darstellerisch Großartiges.
Roland Kluttig erreicht mit der Staatskapelle Weimar eine musikalische Qualität, die einem den Atem verschlägt
Auf der einen Seite ist es der Kampf um das pure Überleben und einen Rest Menschlichkeit, der berührt. Auf der anderen Seite schockiert der im Grunde perverse Wunsch Lisas nach einer Art Dankbarkeit der Opfer, wenn sie nicht sofort für die Gaskammer selektiert wurden und ihre Fassungslosigkeit über den Hass ihr gegenüber in den Augen ihrer Opfer. Hinzu kommt, dass einem auch die musikalische Qualität, die Roland Kluttig mit der Staatskapelle Weimar hier erreicht, den Atem verschlägt. Vom lakonischen Parlandoton bis zum unverstellten Pathos: dem Reichtum und der Originalität einer Musik so zu ihrem Recht zu verhelfen, hat etwas von ausgleichender Gerechtigkeit und rückt Weinberg ins rechte Licht.

Teuflische Pointe der Geschichte
Dass der Komponist „Die Passagierin“ schon 1969 geschrieben hat, diese aber weder in Moskau, wo er lebte, noch im Osten Europas auf die Bühne kam, steht wie seine eigene Biographie für die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts. Als in Polen geborener Jude entkam er (anders als seine Eltern und seine Schwester) dem Ausrottungswahn der Nazis 1941 in die Sowjetunion. Wie eine teuflische Pointe der Geschichte geriet er dann in Stalins Reich in den auch dort geschürten Strudel des Antisemitismus. Nur der Einsatz Schostakowitschs und Stalins Tod ließen ihn letztlich überleben. Dass einer mit der Erfahrung des Gulag eine Oper über den Holocaust schreibt, war aber auch Stalins Nachfolgern zu viel. Es sind nicht nur die von den Nazis vertriebenen oder ermordeten Zeitgenossen eines Richard Strauss, denen die Nachwelt etwas schuldig ist. Auch Zeitgenossen Schostakowitschs geht es so.
Deutsches Nationaltheater Weimar
Weinberg: Die Passagierin
Roland Kluttig (Leitung), Jossi Wieler & Sergio Morabito (Regie), Anna Viebrock (Bühne & Kostüme), Jens Petereit (Chor), Emma Moore, Sarah Mehnert, Taejun Sun, Ilya Silchuk, Heike Porstein, Sayaka Shigeshima, Kateřina Kurzweil, Anne Weinkauf, Tatjana Winn, Ylva Stenberg, Silvia Schneider, Oliver Luhn, Andreas Koch, Alexander Günther, Elke Sobe, Staatskapelle Weimar