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Opern-Kritik: Nationaltheater Weimar – La traviata

Der Neoliberalismus – eine wüste Gegend

(Weimar, 1.2.2025) Ein turbokapitalistisches Überraschungsei mit Gimmicks am laufenden Band: Operndirektorin Andreas Moses und Musiktheater-Chefdirigent Dominik Beykirch lassen ihre Violetta über die Klinge des Systems springen und machen Ernst mit Verdis anno 1853 echt avantgardistischer Partitur.

vonRoland H. Dippel,

Die Klassikerstadt Weimar assoziiert man gemeinhin kaum mit Verdi. Das ändert sich derzeit rapide. Auf eine „Aida“, in der das Liebespaar im Mülldepot hinter einer Beutekunst-Sammlung verreckt und fundamentalistische Rechtspopulisten die Macht übernehmen, folgte vom Duo mit Operndirektorin Andrea Moses und Musiktheater-Chefdirigent Dominik Beykirch am Deutschen Nationaltheater Weimar nun „La traviata“. Den religiösen Lack von Verdis 1853 bei der Uraufführung verstörendem Kurtisanen- und Tuberkulose-Drama schabte man gründlich ab. An dessen Stelle trat eine andere Lesart: Nicht die „Vom Wege Abgewichene“ oder „Gestrauchelte“, sondern die über die Klinge des Systems springende und sich diesem mit Herz, Seele und Verstand ausliefernde Ikone stand im Zentrum.

Nach der Premiere blieben nur zwei Fragen offen: Warum gibt es für derart ausgelassene Atelier-Feste kein Aspirin? Und warum nur macht eine extrem starke Frau wie Verdis Violetta Valéry den vom Wohlstandsbürger Giorgio Germont geforderten Entsagungsschmäh mit? Deren historisches Vorbild Marie Duplessis war unter anderen die Geliebte ihres Roman-Nachschöpfers Alexandere Dumas fils und von Weimars Hofkapellmeister Franz Liszt. Dass diese Fragen überhaupt aufkommen, bestätigt den Rang der Weimarer Produktion. Diese kommt daher wie ein turbokapitalistisches Überraschungsei mit Gimmicks am laufenden Band.

Szenenbild aus „La traviata“ am Deutschen Nationaltheater Weimar
Szenenbild aus „La traviata“ am Deutschen Nationaltheater Weimar

Action Art, Landlust, Queer Pride

Raimund Bauers Kasten ist ein schwarzes Loch. Diesen füllt ein knallbunt quietschfideles Party-Volk in Anja Rabes‘ überzeichneten und deshalb stimmigen Gegenwartskostümen für multiple Egotrips. Die unsichtbare Theaterwand wird genussvoll eingerissen. Mehrfach rammelt die Meute durch den Zuschauerraum – raus und rein in Violettas Raumrevier. Dieses ist Kunstatelier, Schlafzimmer und Broadcasting-Studio. Geldscheine wirbeln immer wieder – nicht nur, wenn der einer früheren Moralgeneration zugehörige Alfredo der Geliebten Violetta „heimzahlt“, was sie auf äußeren Zwang durch Alfredos Vater verbockt: die Treue, das Vertrauen, die Loyalität. Auch Alfredos Vater Giorgio – typisch vormodern – verwechselt etwas Grundsätzliches, wenn er die Kunstfigur Violetta als sexuelles und domestizierbares Freiwild betrachtet.

Die Schmerzlichkeit ihres Sterbens federt Violetta erst durch Injektionen und Koks etwas ab, macht es dann als Kombi von einem letzten Kuscheln mit Alfredo, Selbstporträt als (Retro-)Heiliger Jungfrau und drastischer Körperlichkeit zum Livestream. Fast bedeutender als der Lover geraten Doktor Grenvil, den Guido Jentjens auf den Partys genüsslich als Superbitch im Lederkilt zelebriert, und der trotzdem ein empathischer Arzt ist, vor allem aber Annina, Violettas zur Hauptfigur aufgewertete „cameriera“. Sie ist Violettas Stagemanagerin und heimlich Liebende. Sarah Mehnert verkörpert die Partie mit Haut und Haaren, macht auf einpeitschende Assistentin, eiskalte Body Guard und Nudelsalat-Fetischistin. Moses verdoppelt Bergs Lulu und Gräfin Geschwitz bei Verdi.

Szenenbild aus „La traviata“ am Deutschen Nationaltheater Weimar
Szenenbild aus „La traviata“ am Deutschen Nationaltheater Weimar

Queere Tummelmeute frei nach Verdi

Wie immer nährt sich bei Moses und ihrem Dramaturgen Michael Höppner die mit sarkastischer Komik durchsetzte Studie aus dem Tagesgeschehen. Drinnen und draußen – Verdis Musikdrama aus dem Geist der Opéra-comique erhält Einlagen mit „elektroakustischen Inlays“ von Brigitta Muntendorf. Die designierte Leiterin der KunstFestSpiele Herrenhausen konsultierte – wie das Raumklang-Equipment neben Samplings nahelegt – einen kundigen Discjockey für die Basic Beats und generierte kontrastierende, immer respektvolle Soundclouds neben Verdi.

Bravourös spielt und singt der angemessen exaltierte Opernchor (par excellence gecoacht von Jens Petereit): Keine Musikbeamte beim Abenddienst, sondern eine von Moses trendig hochgezüchtete und spielwütige Gemeinschaft als queere Tummelmeute mit Aktivparolen auf den Klamotten und im Hirn. In der spanischen Soirée bei Flora Bervoix mimen die Frauen postfeministische Hennenkarikaturen, denen ein extrem haariger Stier (Jörn Eichler als Gaston) und die Herren Toreros mit aus dem Schritt pimmelnden 23-Zentimeter-Gemächten nachpirschen. Muntendorfs letztes Inlay gilt dem Karnevalschor draußen mit Videobildern von dem durch Rechtsextremisten aufgemischten Bautzner CSD im August 2024.

Szenenbild aus „La traviata“ am Deutschen Nationaltheater Weimar
Szenenbild aus „La traviata“ am Deutschen Nationaltheater Weimar

Erfundene Musik-Wahrheiten

Das alles funktioniert, weil Dominik Beykirch und die Staatskapelle Weimar – inklusive Statisterie und Bühnenmusik – diese fetzige Soziotopographie mit Verdis ureigenen Mitteln durchfurchen. Zu Beginn der berühmten Vorspiele also kein elegisches Säuseln, sondern sehniger Streicherklang, der sich immer wieder gegen die substanziell herausgeholten Nebenstimmen behaupten muss. Beykirch macht also Ernst mit Verdis anno 1853 echt avantgardistischer Partitur.

Anninas Dominanz wird stabilisiert durch deren handgreifliches Stutenbeißen mit der Szenequeen Flora (Luxus-Besetzung: Sayaka Shigeshima). Ausgerechnet Violettas temporärer Begleiter Douphol gibt eine blasse Niete im silbergrauen Anzug (Ilya Silchuk). Dazu ist jede Winzigpartie frei nach Andy Warhol ein temporärer Sekundenstar: Andreas Koch als Obigny, Walter Farmer Hart als Tattoo Artist Giuseppe, Taehwan Kim als Floras Diener, Oliver Luhn als Gelegenheitspostbote. Überhaupt: Viele entstellende Striche aus Tradition wurden geöffnet.

Szenenbild aus „La traviata“ am Deutschen Nationaltheater Weimar
Szenenbild aus „La traviata“ am Deutschen Nationaltheater Weimar

Postkapitalistische Humanität

Wohl keine Absicht: Taejun Sun ist als Violettas Lover kein Ekel Alfredo, sondern agiert mit authentischer Herzlichkeit bis in die Cholerik-Attacken. Er singt schmelzend und braucht deshalb in der Auseinandersetzung mit dem offenbar im Unionskreisverband sitzenden Vater Germont dann schon Axt und Flinte. Übereinkunft von Musik und Szene: Leicht knarzig nimmt Jochen Kupfer die Vater-Germont-Arie in voller Länge mitsamt Polka-Finale, die Staatskapelle unterlegt das mit vorsätzlich klebriger Ölspur.

Yiva Stenberg hat nach ihrer silbrigen Bellini-Giulietta fulminant zugelegt – an Stimme, Power und Intensität. Höhepunkt: Die mit Inbrunst und versehrend gesungene zweite Strophe der Addio-Arie und Kadenz im Finalduett, nochmals verdichtet durch das wie notiert statt sentimental genommene Sterben. Auf die Kunstfigur, die Papier, Wände und Wäsche bekritzelnde Multiartist, folgt im Landlust-Bild das Soziogramm: Da agiert Violetta als junge Frau aus den unteren Schichten, welcher der soziale Aufstieg fast zweitrangig wurde. Zum Livestreaming-Sterbeakt stellt sie Kurzhaar und dürre Beine in schwarzen Leggings zur Schau. Diese Violetta agiert an der Schnittstelle zwischen Marina Abramović und Nan-Goldin-Modell. Das sitzt schon so bravourös, dass der Stich in die Eingeweide des Publikums ganz knapp verfehlt wird und am Ende der Jubelorkan losbricht.

Deutsches Nationaltheater Weimar
Verdi: La traviata

Dominik Beykirch (Leitung), Andrea Moses (Regie), Raimund Bauer (Bühne), Anja Rabes (Kostüme), Michael Höppner (Dramaturgie), Brigitta Muntendorf (Elektroakustische Inlays), Jörg Hammerschmidt (Licht), Andrea Gabriel (Videodesign und Live-Kamera), Jens Petereit (Chor), Ylva Sofia Stenberg, Taejun Sun, Jochen Kupfer, Sayaka Shigeshima, Sarah Mehnert, Jörn Eichler, Ilya Silchuk, Andreas Koch, Guido Jentjens, Walter Farmer Hart, Taehwan Kim, Oliver Luhn, Opernchor des DNT, Staatskapelle Weimar






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