Dieses Jahr kam man bei den Domstufen-Festspielen und dem größten Classic Open Air Thüringens auf ein herausragend kongeniales Stück, hatte sagenhaftes Glück mit Ben Baurs idealer Inszenierung und einem weltbekannten Sujet aus der Regionalgeschichte: Hector Berlioz‘ dramatische Legende „La damnation de Faust“. Denn nicht nur Knittlingen und Leipzig oder Pottenstein, letzteres wegen eines „Faust“-Musicals, sind Faust-Orte, sondern auch die thüringische Landeshauptstadt.
Nach dem Volksbuch von 1567 soll der Teufelsbündler und Wunderheiler Faust mehrfach in Erfurt aufgeschlagen sein, unter anderem als „Heidelberger Halbgott“. Das Faustgäßchen erhielt seinen Namen offiziell 1850, hieß im Volksmund aber schon weitaus früher so. Wie wichtig der Fauststoff für Erfurt war, beweisen drei Monumentalbilder im Erfurter Rathaus, geschaffen 1894 von Eduard Kaempffer aus der Düsseldorfer Malerschule. Seine Motive stehen ebenso wenig in Beziehung zu Goethes zwei Tragödien-Teilen wie Berlioz‘ collageartige Konzerttheater- und Kopfkino-Dramaturgie. Denn bei Kaempffer und Berlioz fährt Faust nicht zum Himmel, sondern zur Hölle.
Erstmals nur im Konzert 1846 in Paris, auf der Opernbühne seit 1893 in Monte Carlo immer wieder. Auch dass erste Faust-Adaptionen in der frühen Neuzeit Puppenspiel und Jahrmarkttheater waren, sprach als Erfurter Entscheidung für „La damnation de Faust“. Ideal ist der mit Hilfe von Almire Gardonnière nach Gérard de Nervals Goethe-Übersetzung ins Französische gesetzte Berlioz-Geniestreich aus mehreren Gründen.
Französische Revue über Deutschland
In „Fausts Verdammnis“ flankieren zahlreiche (Wunschkonzert-)Hits die ziemlich taffe Szenenfolge. Berlioz‘ ursprünglich rein konzertant gedachtes Opus nimmt Richard Wagners nicht ganz ernst gemeinten Hilferuf nach einem „unsichtbaren Theater“ vorweg. Dabei verfuhr Berlioz durchaus musicalgemäß. Die dem französischen Publikum schon 1846 bekannten Goethe-Szenen kommen zwar vor, aber in etwas veränderten Handlungskontexten.
Gretchen am Spinnrad seufzt und schmachtet ihre Sehnsucht nicht vor, sondern nach der geschlechtlichen Vereinigung mit Faust. Und nicht zuletzt ist „La damnation de Faust“ eine musikalische Deutschland-Reise mit Tourismus-Appeal, in der Berlioz allerlei Klischeebilder Frankreichs über seine kleinstaatlich diffusen Nachbarn reihte. Alles in allem also brillante Szenen- und Musikanlässe mit bildungshaltigen Genussmomenten.
Berlioz war viel bei Goethe Essenzielles schnuppe
Ben Baur ist die richtige Person für solches theatrales Total-Unterfangen. Faust steht zu Beginn mit Schlips und Spaten an einem Grab – und im Finale kommt er mit gleichem Outfit ins Grab. Zum Rákóczi-Marsch staffiert sich ein bürgerlicher Theater- oder Gesangsverein mit tiefroten Narrenkappen und weißen Gesichtslarven aus, schart sich um Faust. Baurs Bühnenbild: Eine Engelsstatue, eine steinerne Madonna mit Devotionalien am mausgrauen Sockel, ein Friedhof.
Das spielt mit Erwartungshaltungen der Goethe-Kundigen und lässt diese unerfüllt, weil für Berlioz viel bei Goethe Essenzielles schnuppe war: Teufelspakt und der erste Blickwechsel zwischen Faust und Marguerite werden in „Fausts Verdammnis“ nur gestreift, Gretchens Bruder mit Kleinbürger-Wertekorsett und die in späteren Faust-Opern von Gounod und Boito aufgemotzte Walpurgisnacht fehlen ganz.
Liebevolle Ironie, die man kaum merkt
Uta Meenens Kostüme machen listigen Sinn: Gretchen trägt rosa Joppe und zitronengelbe Zöpfe. Um mindestens eine Generation verjüngt ist sie und fährt Fahrrad. Beim Sylphidenreigen an der Elbe erscheint Faust gleich eine ganze Gretchen-Horde (Choreografie: Rachele Pedrocchi). Wenn das deutsche Mädel Marguerite von Schmuck träumt, nahen sich ihr mit blonden Zöpfen und Perlenketten bestückte Männer.
Und beim Geistertanz schwingt sich die Luftakrobatin Carina Shapoval am Seil in schwindelerregende Höhen und erntet dafür den tobenden Applaus. Betörend in Berlioz‘ tönenden Deutschlandbildern, seiner bizarren Hölle und in einem Himmel, der Marguerite mit watteweichen Geigensoli empfängt, ist der Erfurter Opern- mitsamt Philharmonischem Chor rundum stark gefordert (Einstudierung: Markus Baisch).
Orchestermagie
Im lackleuchtenden Auto jagt der Dirigent Yannis Pouspourikas aus dem Orchesterprobensaal des etwa einen Kilometer entfernten Theater Erfurt herbei, aus dem das Philharmonische Orchester Erfurt akustisch und visuell zu den Domstufen broadcastet. Bei den Sounds hört man – das Auge hilft dank Baurs Breitwand-Sensibilität – viel von Berlioz‘ pikanter und zu Meyerbeers großen Opern in Konkurrenz tretender Orchestermagie.
Französische Vokalimporte nach Thüringen
Wie schaut es aus mit französischer Vokaldelikatesse im Land der Dichter und Denker? Der Franzose Christophe Berry strahlt leuchtend über den Ostergesang, nimmt den Beginn comme il faut und trumpft im Gebet bei den schwarzen Kreuzen sattsam auf. Jean-Luc Ballestra gibt beim ersten Auftritt natürlich einen roten und deshalb für unbedarfte Frauen vor 120 Jahren gefährlichen Priester. Er ist ein eher mediterraner Teufel, der in der milden Erfurter Sommerdämmerung minimal rau klingt.
Julie Robard-Gendre empfiehlt sich mit Volldruck als ideales Gretchen für die Arena von Verona. Deshalb lässt sie sich auf den von Berlioz‘ vorgesehenen Zärtlichkeitsschub zwischen Mezzosopran und Solo-Viola gar nicht erst ein. Das schafft festlichen Effekt und ganz viel Applaus.
Domstufen-Festspiele Erfurt
Berlioz: Fausts Verdammnis (La damnation de Faust)
Yannis Pouspourikas (Leitung), Ben Baur (Regie & Bühne), Uta Meenen (Kostüme), Rachele Pedrocchi (Choreografie), Thomas Spangenberg (Licht), Markus Baisch (Chor), Arne Langer (Dramaturgie), Christophe Berry / Jongwoo Kim / Matjaž Stopinšek (Faust), Anna Danik / Anaïk Morel / Julie Robard-Gendre / Alexandra Yangel (Marguerite), Jean-Luc Ballestra / Vittorio de Campo / Ks. Máté Sólyom-Nagy (Méphistophèlès), Changdai Park / Simon Stricker (Brandner), Opernchor des Theaters Erfurt, Philharmonischer Chor Erfurt, Philharmonisches Orchester Erfurt