Die sehr freie Adaption von Jacques Cazottes Kurzroman „Der verliebte Teufel“ von 1772 durch die Librettisten Augustus Harris und Edmund Falconer war am 20. Dezember 1858 die erste Uraufführung im nach einem Brand 1856 neu errichteten Londoner Opernhaus Covent Garden. Natürlich kam es im Regierungsjahr 21 der für ihren Moralrigorismus berüchtigten Queen Victoria in „Satanella or The Power of Love“ zu massiven erotischen Entschärfungen für die Vertonung des zu Lebzeiten außerordentlich produktiven und erfolgreichen Komponisten Michael William Balfe. Die im Vergleich zu Cazottes Text etwas tugendboldigen Dialoge hatten Regisseur Christian von Götz und das Ensemble im Eduard-von-Winterstein-Theater Annaberg-Buchholz für die sensationell gelungene deutsche Erstaufführung in englischer Sprache gründlich aufgeheizt. Damit bewahrte man in etwas anderer Gewichtung viel von Cazottes thematischem Zündstoff. Zwei Einspielungen – eine unter Richard Bonynge – konnten dem eigenwilligen Werk bisher auch international nicht den fälligen Erfolgsschub bringen. Wie schon bei Balfes „Falstaff“ 2022 erfolgte diese Einstudierung nach der Neuausgabe von Valerie Lengfield.
Mit Schmiss und Schmelz
Die Erzgebirgische Philharmonie Aue – gestählt und gewachsen an langjährigen Herausforderungen durch Randrepertoire von Goldmark bis Zeisl – zeigte Schmiss und Schmelz. Bei der Einstudierung setzten Dieter Klug und beim Premierendirigat der scheidende GMD Jens Georg Bachmann alle Vorzüge Balfes und dessen originelles Blitzgewitter aus Zeitstilistiken von Auber bis Verdi ins optimale Klanglicht.
Alles andere als heteronormativ
Böse Jenseitswesen waren bereits im 19. Jahrhundert nicht nur männlich und alles andere als heteronormativ. Heinrich Heine machte 1846 in seinem Tanzpoem „Der Doktor Faust“ für den Londoner Intendanten Benjamin Lumley aus Mephistopheles eine rasante Mephistophela. Sheridan Le Fanu ersann 1872 die lesbische Vampirin und Dracula-Vorläuferin „Carmilla“. Neben diesen nimmt sich Balfes „Satanella“ im Original kreuzbrav, ehrsam und fast ein bisschen spannungslos aus. Denn die grundsympathische Satanella folgt zwar dem höllischen Verführungsauftrag, in die Nähe Ruperts zu kommen, wird aus echter Liebe zu diesem ihrem satanischen Zerstörungswerk allerdings nicht im geringsten gerecht. Bei Cazotte verwandelt sich der Teufel selbst in die heißblütige Biondetta und nimmt sein Verführungswerk an einem spanischen Schwerenöter verdammt ernst. Cazottes „diable amoureux“ ist also genau genommen ein schwuler bzw. queerer Teufel.
Schwarze Seelen, schwarze Bühne
Wie biedermeierliche Ziehpuppen bewegen sich die Chorfrauen in von Götz‘ auch Bühne und Kostüme verantwortender Stenographie. Die Männer steuern mit Frack und Zylinder eine harte Prügelszene bei. „Der Satan träumt nicht“ und „Bis der Tod euch scheidet“ dräuen Kreideschriftzüge auf den das Spielgeschehen umrandenden Paravents. Schwärzer geht’s nicht als in von Götz‘ biedermeiernder Ausstattung. Wenn etwas weiß ist in dieser Inszenierung, dann die Fetzen der Teufelsfrau Arimanes, das weiße Hemd des wahnsinnigen Carl, die Blutflecken auf diesem und das bordeauxrote Kleid Satanellas, wenn sie zum entscheidenden Verführungsvorstoß schreitet. Sonst alles düster wie die erotischen Abgründe der Figuren, die hier reichlich ausgebreitet und durch neue Dialoge geschärft werden. Überlegt auch das Casting: Wenzheng Tong gibt Verena Hierholzers auf der Bühne wie Webers Samiel-Dämon schwadronierenden Weibsteufel Arimanes die berückende Stimmschönheit eines gefallenen Engels.
Zerfressen von Begehren und Buße
In der Spielfassung legt die eigentliche Hauptfigur Carl dem Pater Braccacio die Beichte seiner Obsessionen ab. Carl glaubt, seine Braut getötet zu haben und dass diese sich in Gestalt einer Teufelin rächen will. Sein anderes Ich tritt in Carls Erzählungen mit verdoppelter Gestalt auf. Grund dafür war, dass der Tenor Martin Mairinger sich kurz vor Probenbeginn den Arm gebrochen hatte. Martha Tham übernahm die anspruchsvollen szenischen Aktionen mit aparter, nicht vordergründiger Androgynie und verkörperte die Figur neben dem „nur“ singenden Parade-Tenor mit hohem D. Der Gender-Switch funktionierte, weil er den erotischen Anarchismus, die Abgründe zwischen Schein und Sein vergrößert.
Verena Hierholzers Frauenteufel begleitet, hetzt und terrorisiert Satanella, aber auch alle anderen. Nicht zuletzt gerät der Pater Braccacio in den Strudel von Carls Erzählungen. Totale Verwirrung der Gefühle: Braccacio sieht, wenn Satanella sich ihm nähert, sein Heil in einem anzüglichen Lob an die Allerheiligste Jungfrau. Ob eine solche panerotische „Power of Love“ erstrebsam wäre, ist allerdings fraglich. Aber sie wird verständlich: Der kleine und von Kristina Pernat Ščančar souverän auf die choreographischen Marionetten-Sequenzen vorbereitete Opernchor zeigt eine fashionable, aber repressive Gesellschaft.
Bravouröses Ensemble
Satanella artikuliert in einer Bolero-Cabaletta nachdrücklich ihre Verachtung des Bösen. Solche Bezüge Balfes zum Belcanto Donizettis sind nur Krümel aus einer überaus originellen Partitur-Torte. Vieles, was man von viel später entstandenen Offenbachiaden kennt, irrlichtert bereits durch Balfes Partitur, der sich gründlichst an Auber schulte. Die eingeschobenen Balladen, eine typische Eigenheit des britischen Musiktheaters, halten keineswegs auf und verorten die streng genommen ihrer beruflichen Loyalitätspflicht abtrünnig werdende Satanella als Tugend-Exempel. Zu ganz großer Form mit Meyerbeer-Effekten wachsen ein Beschwörungsterzett und andere Ensembles im dritten Alt.
Der Bariton Jakob Hoffmann als Braccacio füllt diese Schlüsselfigur exzellent und bewegend aus. Bis in die nicht so dominierenden, trotzdem wichtigen Partien von Bettina Grothkopf (Stella), Maria Rüssel (Lelia) und László Varga (Hortensius) hat ETO ein rundum eindrucksvolles Ensemble mit gleich mehreren Glanzlichtern zusammen. Zu denen gehören zweifellos die beiden Tenöre: Martin Mairinger ganz in Schwarz vom Kopfstrumpf bis Trikot und Sohle singt nahezu orpheisch. Dazu hat Mairinger ein betörendes Eigentimbre, das seinen perfekten lyrischen Linien eine apart virile Farbe gibt. Richard Glöckner ist im Spiel so stark wie an Stimme. Die Koreanerin Sarah Chae verkörpert mit Satanella eine Belcanto-Partie, in der es mit vormoderner Lieblichkeit, monarchischer Noblesse und bravourösen Seelenschmerz-Feiern allein nicht getan ist. Dramatisches Handicap: Sie steckt auf der falschen Seite des religiösen Dualismus, was immer wieder zu drastischen Umklammerungen mit Hierholzers Dämonin Arimanes führt. Chae singt das himmlisch. Die Kantilenen ihrer für Bellini idealen Mittellage liegen ihr dabei mehr als die aggressiven Koloraturspitzen.
Prachtvolle Gothic-Revue
Nichts an dieser Gesamtleistung aus Musik und exzessiver Szene wirkt aufgesetzt, überfrachtet, übertrieben. Alle Emotionen- und Erotik-Exzesse sind logisch entwickelt. Die Annaberger Erstaufführung „Satanella“ feiert mit brillant entwickelter Frivolität und Frenetik ein Genre, aus dem noch immer unsere Albträume und Wunschvisionen sind. Dass es dabei zu binären und anderen Grenzüberschreitungen kommt, ist in diesem Fall keine Aktualisierung, sondern steckt bereits um 1800 in der Prosa von Lewis‘ „Der Mönch“ bis Maturins „Melmoth“. Man muss es nur zeigen. Das gelingt in Annaberg faszinierend, unterhaltsam und echt prickelnd.
Eduard-von-Winterstein-Theater Annaberg-Buchholz
Balfe: Satanella oder Die Macht der Liebe
Jens Georg Bachmann (Leitung), Christian von Götz (Regie, Bühne & Kostüme), Kristina Pernat Ščančar (Chor), Lür Jaenike (Dramaturgie), Sarah Chae, Maria Rüssel, Bettina Grothkopf, Nadine Dobbriner, Martha Tham, Martin Mairinger, Richard Glöckner, László Varga, Jakob Hoffmann, Verena Hierholzer (Bühne) / Wenzheng Tong (Stimme), Yuta Kimura, Lukáš Šimonov, Opernchor des Eduard-von-Winterstein-Theaters, Erzgebirgische Philharmonie Aue