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Opern-Kritik: Elbphilharmonie Hamburg – Saint François d’Assise

Musikalisch-theologische Wanderungen

(Hamburg, 2.6.2024) In der Elbphilharmonie Hamburg bringt der scheidende GMD Kent Nagano mit Olivier Messiaens „Saint François d’Assise“ sein Wunsch- und Herzensprojekt halbszenisch auf die Bühne. Vier Stunden seelisch-orgiastischer Musik aus dem Klangkörper des Philharmonischen Staatsorchester Hamburg gipfelten in einer überwältigend ekstatischen Schlussapotheose.

vonPatrick Erb,

Er steht auf einem Steg, der im großen Saal der Elbphilharmonie über die Orchestermusiker kragt: Jacques Imbrailo als St. François. Der Steg ist dem Sänger dabei die Kanzel, von der aus er die Liebe und vollkommene Freude an Christus mit erstaunlich raumergreifender baritonaler Lyrik predigt. Ihm zur Seite und gegenüber stehen Ordensbrüder, darunter Massée (mit warmer Tenorfarbigkeit: Dovlet Nurgeldiyev) und Léon (nicht weniger verständnisvoll baritonlyrisch: Kartal Karagedik) oder ein Leprakranker (Anthony Gregory), der Franziskus an das bedingungslose Lieben erinnert. Georges Delnon, ebenso scheidender Intendant der Hamburgischen Staatsoper und Impresario dieser szenischen Einrichtung, verzichtet hier auf große Bilder und gewandet das Szenario in überzeitliche Schlichtheit, in der die Sänger – eingehüllt in seelisch-orgiastische Klangwelten – fast schon den Widerspruch der Askese zu besingen haben und den Lehren von Franziskus lauschen.

Szenenbild zu „Saint François d’Assise“
Szenenbild zu „Saint François d’Assise“

Das Hamburg Franz von Assisis

Dieser Franziskus predigt indes nicht vor Ordensbrüdern in Assisi, sondern vor allem vor den Hamburger Bürgern und Opernbegeisterten. Was eigentlich nur musikalisch-träumerische Abstraktion ist, gelingt in seiner Kontextualisierung überraschend gut: Auf dem 360-Grad-Bildschirm zeigen Video-Sequenzen Aspekte, die die Historie und das Leben Franz von Assisis mit Persönlichkeiten und der Lebenswirklichkeit der Stadt Hamburg verbinden. Der Fokus dieser tonlosen Sequenzen liegt dabei auf dem Erfassen der emotionalen Wahrnehmung der Agierenden, beispielsweise auf Klimaforscher Mojib Latif, der allegorisch für die schützenswerte Natur eintritt. Auch naheliegende Aspekte wie Dependancen der Franziskaner in Hamburg und Hospize, die einem karitativen Zweck dienen, erfüllen das Bild des Bescheidenheit predigenden Geistlichen.

Sehr stark dabei das Bild der Mitarbeitenden der Hamburger Obdachlosenzeitung „Hinz&Kunzt“, ein Projekt von und für Menschen, die sich nicht freiwillig für ein Leben in ärmlicher Askese entschieden haben und durch die Zeitung mehr noch als ein Zubrot Halt im Alltag erfahren und Kontakte pflegen können. Berührende Bilder zu einer gewaltigen Musiksprache, die sich der Notwendigkeit jeglicher bildlichen Effekthascherei durch geistige Noblesse entzieht.

Szenenbild zu „Saint François d’Assise“
Szenenbild zu „Saint François d’Assise“

Wenn ein Engel an die Pforte klopft

Diese Noblesse findet in Anna Prohaska ihre Personifikation, die als Engel in perlmuttweißem und in den Farben des Regenbogens schimmerndem Gewand von den Rängen des Saals zunächst als Wanderer unerkannt mit martialischer Orchesterunterstützung an die Klosterpforten klopft, dann als Engel identifiziert beinahe in irisierendem Nihilismus von der himmlischen Glückseligkeit predigt. Die Jenseitsklanglichkeit der dem Theremin nicht unähnlichen Ondes Martenots aufnehmend ist Prohaska mit ihrem überirdischen Sopran in der Lage, schwungvolle Tonstürze wie auch chromatische Entrückungen wiederzugeben, ohne je an dynamischer Qualität einzubüßen. Prohaska steht dadurch in Korrespondenz zum gewaltigen Choraufgebot, bestehend aus Audi Jugendchorakademie und Vokalensemble LauschWerk, die sowohl in gewagten Klangkaskaden aufgehen als auch in bedrückend stiller Zurückhaltung verharren können.

Szenenbild zu „Saint François d’Assise“
Szenenbild zu „Saint François d’Assise“

Da Franziskus ging den Vögeln predigen

Mit gewaltigen Tableaus beinahe kosmischen Ausmaßes geizt Messiaens Werk gewiss nicht. Das größte dabei ist das sechste von acht Bildern, die Vogelpredigt, in der Franziskus mit Bruder Massée dem Konzert der Vögel lauscht. Nachdem er die Vögel dazu auffordert, dem Schöpfer für seine Wohltaten zu danken, verstummen diese zunächst, um schließlich zu einem noch prächtigeren Konzert anzusetzen. Doch singen hier die Vögel Umbriens, darunter die Mönchsgrasmücke, oder vielmehr auch die Vögel Neukaledoniens? Der passionierte Ornithologe Messiaen kennt sie dabei alle: zwischen komplexen Streicherskalen, fein ziselierten Xylo- und Metallofonklängen sowie Glocken- und Holzbläserläufen entfacht er ein wildes Vogeltreiben, in das sich wohl auch an der Elbe siedelnde Möwen dazu gesellen – der große Saal der Elbphilharmonie wird zur Voliere des Naturklangs, des Vogelrufs, der Avantgarde!

Szenenbild zu „Saint François d’Assise“
Szenenbild zu „Saint François d’Assise“

Nagano, der Kenner und Bearbeiter der Musik Olivier Messiaens

Zu verdanken ist das hin- und mitreißende Klangkunstwerk Kent Nagano, der als Freund Olivier Messiaens und Assistent bei der Uraufführung der Oper wie kein Zweiter mit dessen Musik vertraut ist. Der Hamburger Generalmusikdirektor findet zu einem unverkennbar präzisen Gestus, der die rhythmische Komplexität des reichen perkussiven Apparates mit den gehaltvollen Streicherwogen versöhnt. Behutsam wird taktweise neu entschieden, was die angemessene Intonation, was das richtige Tempo und was die treffende Dynamik der Situation ist. Wie das Leben des Heiligen vorgezeichnet zu sein scheint, überlässt auch Nagano nichts dem Zufall. Dass der Chor aufgrund der schwierigen Aufführungssituation in manchen Momenten um den Bruchteil einer Sekunde versetzt einsetzte, verblasst als Kritik angesichts der gewaltigen Blech- und Streicherwogen, durch die der gesamte Konzertsaal bei so manchem Tableau in einem indifferenten Erzittern zu verschwimmen droht.

Szenenbild zu „Saint François d’Assise“
Szenenbild zu „Saint François d’Assise“

Finalapotheose

Doch auch einem Franziskus steht am Ende der Reise der Tod bevor. Seine Brüder um sich geschart und vom Engel getröstet, entschwindet dieser im Licht und in einer gewaltigen markerschütternden und Sekunden nachhallenden Klangapotheose von Chor und Orchester, nach der erst einige Zeit vergeht, bis die Zuhörenden in der Elbphilharmonie aus ihrem kräftezehrenden Traum erwachen und in Beifallsstürme ausbrechen. Zumindest eine Wahrheit wird an diesem Abend Bestand haben: Dass die Musik wie keine andere Kunstform neben ihr zur Erschaffung von Welten jenseits der Realität befähigt ist. Selten wirkte eine nur auf ihrer tonmalerischen Sphäre beruhende Klangwelt so immersiv-wirklich wie das Assisi von Messiaen – das Hamburg von Nagano und Delnon.

Elbphilharmonie Hamburg
Messiaen: Saint François d’Assise

Kent Nagano (Leitung), Georges Delnon (Regie), Thomas Jürgens (Szenografie), Julia Motti (Kostüme), Marcus Richardt (Video), David Rankenhohn (Kamera), Stefan Bolliger (Licht), Janina Zell & Ralf Waldschmidt (Dramaturgie), Jacques Imbrailo, Anna Prohaska, Anthony Gregory, Kartal Karagedik, Dovlet Nurgeldiyev, Andrew Dickinson, David Minesok Kang, Florian Eggers, Niklas Mallmann, Audi Jugendchorakademie, Vokalensemble LauschWerk, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg

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