Unter der künstlerischen Leitung von Bernd Loebe erweitert sich das schon früher unter Gustav Kuhn beeindruckende Werkspektrum der Tiroler Festspiele Erl rapide. Während die meisten Repertoire-Häuser zum Jahreswechsel im überraschungsfreien Planquadrat von „Hänsel und Gretel“, „Zauberflöte“, „La Bohème“ und „Die Fledermaus“ bleiben, gibt es im Tiroler Inntal zwei Komödien-Spitzenreiter von Anno dazumal. Mit einem elegant-belustigtem und einem elegant-melancholischen Blick.
Sternstunde: „Le postillon de Lonjumeau“
In der Premiere „Le postillon de Lonjumeau“ fragte man sich den ganzen kurzweiligen Abend, wie Adolphe Adams Feuerwerk an burleskem Witz und berückender Melodik aus dem deutschen Repertoire verschwinden konnte. 185 Jahre nach der Uraufführung in der Pariser Opéra-comique zündet die Komödie über Skepsis bei der Partnerwahl und Lebensbrüche durch sozialen Aufstieg fast wie 1836. Zumal Adams Partitur weitaus mehr bietet als die berühmten Postillon-Couplets mit dem sprichwörtlichen hohen D. Die von der Titelfigur Chapelou in der Hochzeitsnacht sitzengelassene Madeleine ist eine Paradepartie für echte Koloratursoprane – und die Partitur überrascht im heute möglichen Hörspektrum erst recht damit, wie viel Offenbach bereits 1836 in Adam steckte.
Der perfekte Opernabend
Wenn dafür Sänger wie der mühelos hohe Töne abschießende Francesco Demuro, Elsa Dreisigs „Puritani“-Partner in Paris 2019, und die koloraturenkräftige wie geschmeidige Monika Buczkowska zusammenkommen, Kaspar Glarner auf einer Opernbühne des 18. Jahrhunderts den Ring freigibt für Kleingeisterei und pikante Gefühle, überdies Hans Walter Richters Personenführung Stilisierung mit choreographischer Komödiantik verbindet, ist der Opernabend perfekt. Es gibt leider nur noch zwei Vorstellungen: Diese Aufführung ist ein Muss auch durch Erik Nielsens stilaffines Dirigat, das in Festtagsstimmung aufspielende Orchester der Tiroler Festspiele und den von Olga Yanum zu blitzender Akkuratesse gehobene Chor, der dazu noch glänzend agiert.
„L’amicoFritz“: Komödien-Entpackung mit Mussolini-Flair
Eine größere Überraschung ist die im Erler Festspielhaus zum d’Annunzio-nahen Paar-Mysterium werdende Opernkomödie „L’amico Fritz“. Trotz deren Verschwinden aus dem Repertoire kennt man daraus einiges von Traumpaaren wie Mirella Freni und Luciano Pavarotti, Angela Gheorghiu und Roberto Alagna. Wenn Sopranistinnen in ländlicher Tracht mit Weidenkorb Klappleiter-Sprossen erklimmen und einem Tenor im feinen Anzug süße Früchte bieten, spielt man mit 100%er Wahrscheinlichkeit Pietro Mascagnis zweite Oper. In Erl wird’s sogar sportiv: Da schnappt Gerard Schneider erfolgreich nach der ihm von Karen Vuong zugeworfenen Herzkirsche. Aber damit hat es sich auch schon mit glücklicher Zweisamkeit in der Paarfindungskomödie nach einer ländlichen Novelle der im 19. Jahrhundert überaus beliebten Unterhaltungsautoren Erckmann-Chatrian.
Die politisch korrekten Verbesserungsmaßnahmen erweisen Mascagni einen Bärendienst.
Von wem stammte die konzeptionelle Initialzündung? Regie und musikalische Leitung machen aus der im Elsass spielenden Commedia lirica ein erotisches Drama im Bannkreis der durch Symbolismus und Décadence beschworenen Krise der Geschlechtsbeziehungen. Dabei könnte „L’amico Fritz“ so filigran und intim klingen. Francesco Lanzillotta verortet diesen auf dem Akrobatenseil über einer tiefschwarzen Manege zwischen dem späten Verdi, dessen Komödie „Falstaff“ erst zwei Jahre nach „Fritz“ herauskam, und dem immer humorlosen Alfredo Catalani. Das bekommt Mascagni trotz der sättigenden und sensitiven Orchesterleistung schlecht, weil dessen mikrozellare Ariosi nur selten an Ruggero Leoncavallo oder Italo Montemezzi heranreichen.
Lanzillotta macht hörbar, dass Puccini – zumal für die Gestaltung der Mimì in „La Bohème“ – einiges Wiederverwertbare in „L’amico Fritz“ entdeckte. Mit politisch korrekten Verbesserungsmaßnahmen erweisen Ute M. Engelhardt und Sonja Füsti sich und der Oper einen Bärendienst. Den „Z“ Beppe unterziehen sie der Metamorphose zu einer Salonière im breitem Betätigungsfeld von Kumpeltyp, Künstlerin und Geliebte. Von dieser Frau hat, traut man der angebotenen Sinnstiftung, Freund Fritz ebenso klischeehafte Visionen wie von der im „Landlust“-Ambiente tändelnden Suzel.
Sängerischer Volleinsatz
Das geht schon deshalb nicht auf, weil Nina Tarandek als Beppe („Peppina“…?) für soviel inhaltlichen Anspruch leider keinen ausreichend ergiebigen Part hat. Die wenigen Strophen klingen von Tarandek sehr schön, aber sie wertet die Partie nicht auf. Sogar der Renaissance-Spleen italienischer Intellektueller vom späten 19.Jahrhundert bis Mussolini kommt mit dem Sandro Botticellis als lebendes Bild nachgestellten „Frühling“ auf die Bühne: Harmonie der Geschlechter ist und bleibt ferne Utopie. Engelhardt und Füsti zeigen Blütenexplosion und Erntezeit gleichzeitig.
Fritz und Suzel wirken die vokalen Girlanden des Kirschenduetts unter weißen Baumkronen. In Lanzillottas Dirigat hört man aus Mascagnis fragmentierter Melodik und dessen verläppernden Steigerungen eine tiefe Skepsis, ja Melancholie. Trotz des sängerischen Volleinsatzes wird aus dem kompositorischen Strohfeuer kein symphonischer Flächenbrand. Es ehrt Gerard Schneider und Karen Vuong, wenn sie sich nach ihren großartigen Erler Auftritten in „Rusalka“ und „Königskinder“ mit ebensolchem Enthusiasmus in Mascagnis mitunter plumpen Preziösen verausgaben. Beide singen über die Kleinlichkeit des Librettos berauschend hinweg, machen die Musik zwischen Wasser und Sirup zur Premium-Limonade für Schlemmer. Der Witz und die Verspieltheit einer „Trilogie der Sommerfrische“ bleiben fern.
Intellektuelle Enttarnung von Mussolinis Lieblingskomponist
Dafür finden sich durch Henriette Hübschmanns Kostüme auf Agentur-Niveau geschärfte Konsumentenprofile aus der Toscana-Fraktion: Der Samtbariton von Domen Križaj imponiert wie der ihm applizierte Rabbi-Bart. Bei den kleineren Partien kommen Gesungenes und Textiles optimal zusammen: Carlos Cárdenas ist Suzels ausgestochener Bräutigam, Giovanni Battista Parodi ein gewinnender Dandy Hanezò, und Reilly Nelson balanciert als Caterina ihre wenigen Töne so elegant wie die von ihr aufgetragenen Pizzakartons. Festspielwürdig wird dieses Beziehungswintermärchen als intellektuelle Enttarnung von Mussolinis Lieblingskomponist und Beitrag zur kritischen Rezeption Mascagnis. – PS: An den Motorrädern hätte auch der passionierte Autosportler Puccini seine helle Freude gehabt.
Tiroler Festspiele Erl
Mascagni: L’Amico Fritz
Francesco Lanzillotta (Leitung), Ute M. Engelhardt (Regie), Sonja Füsti (Bühne), Henriette Hübschmann (Kostüme), Jakob Bogensperger (Licht), Olga Yanum (Chöre), Gerard Schneider (Fritz), Karen Vuong (Suzel), Nina Tarandek (Beppe), Domen Križaj (David), Carlos Cárdenas (Federico), Giovanni Battista Parodi (Hanezò), ReillyNelson (Caterina), Orchester und Chor der Tiroler Festspiele Erl
Weitere Termine: 2. & 4.1.2022
Adolphe Adam: Le postillon de Lonjumeau
Erik Nielsen/Beomseok Yi (Leitung), Hans Walter Richter (Regie), Kaspar Glarner (Bühne & Kostüme), Gabriel Wanka (Choreografie), Jakob Bogensperger (Licht), Olga Yanum(Chor), Francesco Demuro (Chapelou), Monika Buczkowska (Madeleine), Joel Allison (Bijou), Steven La Brie (Marquis de Corcy), Oskar Hillebrandt (Bourdon), Gabriel Wanka (Rose),Wolfgang Gerold (Louis XV), Orchester und Chor der Tiroler Festspiele Erl
Weitere Termine: 30.12.2021 & 5.1.2022