Andrea Breth im Grand Théâtre de Provence und dann auch noch mit „Salome“ von Richard Strauss vor sich und Ingo Metzmacher als Dirigenten am Pult des Orchestre de Paris sozusagen hinter sich – da waren die Erwartungen an die erste Opernpremiere des aktuellen Festspieljahrgangs in Aix-en-Provence naturgemäß hoch.
Romeo Castellucci hatte sich am Vortag mit seiner Installation zu Gustav Mahlers Auferstehungssinfonie in eine archaisch anmutende, ausgediente Sporthalle weit weg von Aix zurückgezogen und mit seiner szenischen Freilegung eines Massengrabes zwar gewaltigen Eindruck gemacht, aber dem „normalen“ Kanon und seinen Kriterien schlichtweg entzogen. Breth nicht. Sie stellt sich mit ihrer grauverschleierten Bildästhetik (in Raimund Orfeo Vogts Bühne und den Kostümen von Alexandra Charles) und ihrer bewährten Präzision in der Personenführung einem Ausnahmewerk des entfesselten Wahnsinns und der aufbrechenden Obsessionen.
Übersetzung in ein psychologisierendes Bild
Der Clou des Abends ist die dafür gefundene Übersetzung in ein psychologisierendes Bild. Die dünne und brüchige Decke von zähmender Zivilisation und Konvention über den brodelnden Abgründen von Leidenschaft und unkontrollierbaren Obsessionen – die wird hier zu einem szenischen Leitmotiv. Es ist der unsichere Boden eines ebenso unsicheren Gefühlsraumes. Die erste Szene zwischen Narraboth (Joel Prieto) und dem Pagen (Carolyn Sproule) schiebt sich als eingefrorenes hochformatiges Bild wie ein Zitat des Romantikers Caspar David Friedrich quer über die Bühne. Auch die Mondscheibe hat hier von Anbeginn ihr Eigenleben. Wer sich bewegt, der schreitet, scheint zu schweben. Im Hintergrund ist so auch Johanaan nur bis zur Brust über dem Boden zu sehen.
Wie Eisschollen bei Tauwetter
Der Boden aber, auf dem sich die junge Prinzessin in ihrem hellen Unterkleid und alle anderen bewegen, der hat nicht nur Risse, durch die Licht aufsteigt und die Unheil dräuende Stimme des gefangenen Propheten. Er bewegt sich auf und nieder und bricht wie Eisschollen bei Tauwetter. In so einer Bruchstelle taucht Jochanaan auf. Nicht in Ketten und dreckverschmiert aus einer Zisterne oder irgendeinem Käfig. Hier wird das tatsächlich attraktive Haupt von Gábor Bretz sichtbar und zum Objekt der erwachenden sexuellen Begierde Salomes. Nach einem kurzen Moment, in dem er sie fast berührt hätte, steigt Salome zu ihm in diese imaginäre Bruchstelle aller Konventionen hinab und kommt ihm ziemlich nahe. So nah jedenfalls, dass es auch für ihn kein Leichtes ist, bei seiner fundamentalistischen Abwehr aller Frauen und speziell dieser einen zu bleiben. Und so nah, dass beide nicht bemerken, wie Narraboth, nachdem er sich erstochen hat, hinter ihnen und an ihnen vorbei im Boden verschwindet.
In der Schleiertanzszene gehört es zu den Visionen, die den Verführungstanz ersetzen, dass Jochanaan ein Salome-Double mit einer Hand am Hals im Würgegriff auf Abstand hält. Es gibt etliche solcher durchaus fein gedachten und auch gut gemachten Momente der Irritation an diesem Abend. Aber vokal erreichen weder Elsa Dreisig noch Gábor Bretz einen wirklich elektrisierenden Salome-Jochanaan-Moment, der nicht nur eine Idee illustriert, sondern überspringt und fesselt.
Alptraumartige Gefühlslandschaft
Wie es aussieht (und sich auch anhört), wenn eine Protagonistin die Szene wirklich beherrscht, das demonstriert Angela Denoke als attraktiv begehrende, bis in die letzte Handbewegung hinein perfekt durchchoreografierte Herodias. Die Aufforderung an ihren Mann, hineinzugehen, die ist hier nicht nötig. Denn das Innere des Palastes fährt vor das bis dahin graue Dunkel der alptraumartigen Gefühlslandschaft, in der die Gestalten wie in Zeitlupe der Musik folgten, die Metzmacher im Graben dazu geradezu zelebrierte.
Jetzt dominiert das Königspaar samt Hofstaat in Abendmahl-Konstellation die Szene. Mit der offensiv mit ihrem attraktiven Favoriten neben ihr flirtenden Herodias; mit dem seiner Begierde in Sachen Salome nachsabbernden Herodes (John Daszak setzt mehr auf körperliche Wucht, als auf schneidend prägnante Artikulation). Und mit den sich mit Inbrunst streitenden Juden.
Streitbarer Regisseurinnen-Eigensinn
Mit ihrem streitbaren Regisseurinnen-Eigensinn verweigert Breth dann den Tanz der Salome. Sie führt sie stattdessen zurück in die Traumlandschaft mit dem brüchigen Boden und lässt hier die Essenz des Begehrens aufscheinen – Narraboth taucht wieder auf, die Juden, der König und auch Jochanaan befassen sich mit Salome bzw. ihren Doubles. Man versteht den Gedanken, vermisst aber doch ein passendes Bild zur musikalischen Entfesselung. Wenn musikalisch der letzte Schleier gefallen ist, geht es zurück an die jetzt zertrümmerte Tafel im Palast – auch in dem nun herrschenden Chaos ist die Königin genau das!
Perverser Tischschmuck
Aber nicht nur dem Tanz verweigert sich Breth, auch den abgeschlagenen Kopf des Jochanaan platziert sie anders. Der fand sich noch lebendig singend – für die Tischgesellschaft offenbar unsichtbar – auf der königlichen Tafel, drapiert wie ein perverser Tischschmuck. Wenn ihn Salome dann im Bottich in einen schmalen gekachelten Raum tatsächlich vor sich hat, kriegen wir ihn nicht zu sehen. Die Stimme des Herodes, die Salome als Ungeheuer bezeichnet und dann den Befehl „Man töte dieses Weib gibt“, ertönt aus dem Dunkel. Salome liegt da zusammengekrümmt hinter dem Bottich mit dem Kopf des Propheten.
Etwas fehlt Elsa Dreisigs schönem Gesang: das gewisse Quantum Wahnsinn
Für sich genommen fasziniert jedes einzelne der Bilder. Und doch muss man sich diesmal keines unheimlichen Sogs erwehren, ganz gleich ob man nun dem Versuch Breths folgen mag, etwas mehr Partei für Salome zu ergreifen, als es gemeinhin schon gemacht wird, oder auch nicht. In der Erscheinung entspricht die noch junge Elsa Dreisig durchaus der Salome, wie sie sich Andrea Breth gedacht haben mag. 2017 hatte die aufstrebende dänisch-französische Sopranistin an gleicher Stelle mit einer szenisch aufgewerteten Micaëla einen nicht unwesentlichen Anteil am durchschlagenden Erfolg von Tcherniakovs „Carmen“- Inszenierung. Ihre Salome bleibt aber hinter den Erwartungen an diese Ausnahme-Partie zurück. Ihr fehlt über weite Strecke nicht nur Textverständlichkeit. Sie singt zwar – zumal von Metzmacher auf Händen getragen – schön, steigerte sich durchaus im Schlussgesang. Und doch fehlt ihr einfach das gewisse Quantum Wahnsinn, das es für eine mitreißende Salome eben auch braucht.
Festival d‘Aix-en-Provence
Strauss: Salome
Ingo Metzmacher (Leitung), Andrea Breth (Regie), Raimund Orfeo (Bühne), Alexandra Charles (Kostüme), Alexander Koppelmann (Licht), Klaus Bertisch (Dramaturgie), Beate Vollack (Chroeographie), Elsa Dreisig, Gábor Bretz, John Daszak, Angela Denoke, Joel Prieto, Carolyn Sproule, Léo Vermot-Desroches, Kristofer Lundin, Rodolphe Briand, Grégoire Mour, Sulkhan Jaiani, Kristján Jóhannesson, Philippe-Nicolas Martin, Allen Boxer, Katharina Bierweiler, Martina Consoli, Beatriz De Oliveira Scabora, Jacqueline Lopez, Alessia Rizzi, Orchestre de Paris