Als der erste Ton im Grand Théâtre de Provence erklingt, ist Frankreich seit gerade mal 45 Minuten neuer Weltmeister. Der Weg ins Opernhaus birgt also Gefahren. Nicht wirklich welche für Leib und Leben, wenngleich es in den größeren Städten auch heftige Ausschreitungen gibt, aber doch für die feine Garderobe der Gäste. Denn junge Leute haben das Wasser der diversen Brunnen der Altstadt von Aix als Mittel entdeckt, ihre feuchtfröhliche Freude über den Titelgewinn zu teilen.
Im Publikum sitzen dann nicht wenige Franzosen, die auf den Wangen noch die Streifen der Tricolore tragen. Oper und Fußball, die Kunst der Happy Few und die Belustigung der Massen, schließen sich eben doch nicht aus. Das Haus ist jedenfalls voll, obwohl ja nicht gerade ein Lustspiel auf dem Spielplan jenes Festivals steht, das in einer Liga mit Salzburg, Bayreuth und Glyndebourne unterwegs ist.
„Der feurige Engel“ ist die russische Antwort auf die psychische Polyphonie eines Richard Strauss
Prokofjews düster schwüles Mittelalterdrama steht in der Inszenierung von Marius Treliński auf dem Programm. Obwohl es 1954 in Paris in französischer Sprache 30 Jahre nach seiner Entstehung posthum uraufgeführt wurde, erklingt „Der feurige Engel“ nun im russischen Original. Übertitel auf Französisch und Englisch erleichtern es, der Geschichte zu folgen. Die Handlung hat denn auch in etwa so wenig mit dem fernen Mittelalter zu tun wie Wagners „Ring“ mit den ollen Germanen.
Die historische Folie wird zum Spiegel für die freudianisch verdrängte, in den Roaring Twenties umso heftiger hervorbrechende Sexualität. Man denkt sofort an Franz Schrekers wenige Jahre zuvor entstandene Oper „Die Gezeichneten“. Musikalisch lässt sich das Werk als russische Antwort auf die psychische Polyphonie lesen, die Richard Strauss für seine „Elektra“ erfand.
Ein deklamatorischer Musikstil ist das, der zwar auch mal auf krass expressionistische Überwältigung durch Klangmacht setzt, sonst aber durch eine rhetorisch vielsagende, kleinteilige, leitmotivisch durchwirkte Sprache geprägt ist. Das ständige Umschlagen von kleinen zu großen musikalischen Gesten, von Unausgesprochenem zu Explizitem, vom Privaten ins Soziale, vom Realen ins Alptraumhafte muss von allen Mitwirkenden gemeistert werden. Von Sängern, vom Dirigenten, vom Regieteam.
Maestro Kazushi Ono liebt es laut und pauschal
Am wenigsten gelingt der Spagat Kazushi Ono am Pult des Orchestre de Paris. Zu laut und zu pauschal dirigiert er die Partitur, mit sehr vielen aneinandergehängten Höhepunkten, aber ohne das Gespür fürs Zurücknehmen, das Aushorchen von Zwischentönen, die Bedeutung von kleinen Notenwerten und Motiven. Ein Dauerexpressivo sagt eben alsbald gar nichts mehr. Ärgerlich ist zudem, dass der Japaner hier das Gegenmodell zur Sängerfreundlichkeit praktiziert, zu wenig mit den exzellenten Sängern atmet. Der Gestaltungswille auf der Bühne und im Graben geht deutlich auseinander.
Der Regisseur leuchtet die Tiefenschichten einer gepeinigten Seele aus
Denn Marius Treliński hat mit seiner Inszenierung viel vor, auch wenn er nicht alles einlöst. Boris Kudlička hat ihm drei Geschosse eines Horrorhotels auf die Bühne gestellt, ein auf den ersten Blick realistischer Raum, der jedoch das Potenzial hat, uns Einblicke zu gewähren in die psychischen Tiefenschichten der Hysterikerin Renata, die als Kind eine Verbindung mit dem titelgebenden feurigen Engel einging, als Pubertierende die sexuelle Vereinigung mit ihm anstrebte und seitdem in einer Obsession lebt, das Wunderwesen wiederzutreffen, in Männern, auf die sie seine scheinbar idealen Eigenschaften projiziert. Verbirgt sich dahinter aber nicht vielmehr eine Missbrauchsgeschichte?
Wenn Marius Treliński das Ende der Oper nicht librettokonform als Hexenverbrennung der Renata zeigt, sondern als Rückblende auf ihre Initiation in einem gefägnisartigen Mädchenpensionat, das Ende einer als junge Frau Gekreuzigten somit als eigentlichen Anfang der Handlung umdeutet, wird die Interpretationsschicht des kirchlichen Missbrauchs klar akzentuiert. Trelińskis Renata neigt demnach dazu, sich immer wieder selbst zu verletzen, sie setzt ihrem Leben denn auch vor dem umgedeuteten Finale ein Ende.
Aušrinė Stundytė mit dem Mut zum Totaleinsatz
Schade nur, dass der Regisseur die Möglichkeiten des Bühnenbildes zu wenig nutzt, die diversen Zimmer zu selten mit Parallelhandlungen bespielt, die Synchronizität des Ungleichzeitigen als Verschaltung von Wirklichkeit und Alptraum nicht deutlicher einsetzt. Freilich entsteht hier nicht zuletzt durch die Sänger ein packender Musiktheaterabend. Zumal Aušrinė Stundytė als Sängerdarstellerin par excellence liefert sich der Renata vollkommen aus.
Welche Unbedingtheit, welche bewusste Schutzlosigkeit, welchen Totaleinsatz die Sopranistin hier erneut wagt, nachdem sie in der vergangenen Spielzeit an der Komischen Oper Berlin in Schrekers „Die Gezeichneten“ eine direkte Geistes- und Leidensverwandte der Renata gespielt hat: die Carlotta. Intensiver Bühnenpartner ist ihr der amerikanische Bariton Scott Hendricks, der sein Russisch vorbildlich idiomatisch einsetzt. Vielfach in Doppelrollen gefordert zeigen auch der Tenor Andreï Popov, Bass Krzysztof Bączyk oder Mezzo Agnieszka Rehlis punktgenaue Profile.
Festival d’Aix-en-Provence
Prokofjew: „Der feurige Engel“
Kazushi Ono (Leitung), Mariusz Treliński (Regie), Boris Kudlička (Bühne), Kaspar Glarner (Kostüme), Aušrinė Stundytė, Scott Hendricks, Agnieszka Rehlis, Andreï Popov, Krzysztof Bączyk, Pavlo Tolstoy, Łukasz Goliński, Bernadetta Grabias, Orchestre de Paris
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