Die wirklich großen, die magischen Momente des Musiktheaters erweisen sich im Nachhinein als einfach, ja, als elementar. Sie folgen der alten Wahrheit des „Weniger ist mehr“. Händel konnte solche Momente mit an sich überschaubaren Mitteln zaubern, sein barocker Kollege von der Insel konnte es auch. Henry Purcell, dessen eigentlich gar nicht abendfüllende Oper „Dido and Aeneas“ uns nun gleichsam verfrüht in den südfranzösischen Sommerabend entließ, ersann ebenso solche Augenblicke einer verdichteten Wahrheit. Zum Beispiel im Finale der Oper, wenn der Chor in alter griechischer Manier das tragische Ende der soeben per Gifttrank aus der Welt geschiedenen Dido kommentiert.
Musizieren in ergreifender Natürlichkeit
Václav Luks lässt dieses Ende a capella singen, gänzlich unbegleitet von instrumentaler Stützung. Der wunderbare Chor des Ensemble Pygmalion – sein in diesen letzten Takten arbeitsloses Instrumentalensemble trägt denselben Namen – intoniert Purcells Weltabschiedsmusik mit einer ergreifenden Natürlichkeit, ganz intim und intensiv zugleich. Da begreift man auf einmal, welche Kraft diese oft so unglaubwürdige, diese auf das Geheimnis der unwahrscheinlichsten Kommunikationsform überhaupt setzende Kunst namens Oper doch haben kann. Im reinen, puren, unverschnörkelten Gesang.
Purcells sanfter Swing
Václav Luks gehört zu jenen Experten der Historischen Aufführungspraxis, die barocke Musik nicht aufpeppen, nicht durch extra scharfe Würzungen interessant machen wollen. Er vertraut den alten Partituren, die bei ihrer Reanimierung freilich in fast jedem Takt nach persönlichen Entscheidungen rufen. Denn es ist eben nicht alles notiert, nicht alles festgelegt, oft nicht klar, welche Instrumente denn welche Musik gemeinsam mit ihren Farben ausmalen sollen. Luks entscheidet sich bei Purcell für einen sanften Swing. Seine federnd sangliche, geschmeidige Musizierhaltung meidet die Extreme, die Überakzentuierungen, den überzogenen rhythmischen Zugriff. Er lauscht liebevoll achtsam darauf, was an feinen leisen Zwischentönen in den Noten steckt. Barock-Rock ist das nicht. Eher eine Vorwegnahme eines empfindsamen Stils, den es offiziell ja noch lange nicht gab.
Ensembleleistung statt Primadonnenglanz
Die Sänger danken es ihm, die oftmals jungen, schlanken, pianofeinen Stimmen behaupten hier gar nicht große Oper, sondern leben das Kammerspiel, das im gar nicht kleinen Freilufttheater, dem Théâtre de Archevêché, exzellent zur Geltung kommt. So passiert es, dass der denn doch etwas fleischlosen Mezzosopranistin Anaĩk Morel, die der Dido Stimme und Gestalt leiht, von ihrer in derselben Stimmlage beheimateten Gegenspielerin Lucile Richardot, die der bösen Sorceress herrlich orgelnde Töne verordnet, der Rang abgelaufen wird. Das macht nichts, denn hier zählt so viel mehr als einzelner Primadonnenglanz die stimmig runde Ensembleleistung.
Entschlackte Verwesentlichung im Chéreau-Stil
Wer sich angesichts des Regiestils von Vincent Huguet geradewegs an den viel zu früh verstorbenen Großmeisters Patrice Chéreau erinnert fühlt, der sich hier auf dieser Bühne mit der „Elektra“ von Richard Strauss seine letzte Großtat abtrotzte, der sieht genau richtig. Denn der junge Regisseur hat Chéreau assistiert. Das archaisch strenge Schreiten vor der Mauer einer antiken Hafenanlage sieht in manchen Szenen altväterlich aus, es dient indes genau jener entschlackten Verwesentlichung, auf die sich Chéreau so grandios verstand. Ja, es entsteht hier durch die eben nur vordergründig konservative Regie eine Zeitgenossenschaft des Archaischen, die den Abend im Ergebnis verblüffend aktuell macht.
„Dido and Aeneas“: Ein Prolog aus der Gegenwart
Dazu dient auch der hinzuerfundene Prolog, in dem die schwarze Schauspielerin, Chansonière und Komponisten Rokia Traoré ohne jede Aufdringlichkeit des erhobenen Zeigefingers vom Verlorensein auf der Flucht, von einer Exilantin Dido, von fliehenden Menschen auf Booten spricht. Ein kurzer Abend von tiefer wie bitterer Wahrheit, der so berührend beginnt wie er endet.
Festival d’Aix-en-Provence
Purcell: „Dido and Aeneas“
Václav Luks (Leitung), Vincent Huguet (Regie), Aurélie Maestre (Bühne), Caroline de Vivalse (Kostüme), Rokia Traoré, Anaĩk Morel, Tobias Lee Greenhalgh, Sophia Burgos, Lucile Richardot, Rachel Redmond, Fleur Barron, Majdouline Zerari, Peter Kirk, Ensemble Pygmalion