Bedauerlich, dass zum 100. Geburtstag des Komponisten Gottfried von Einem auf den Bühnen vor allem dessen „Der Besuch der alten Dame“ (Theater an der Wien, Landesbühnen Sachsen) und „Dantons Tod“ erscheinen. Zur Uraufführung bei den ersten Salzburger Festspielen der Nachkriegszeit 1947 feierte man „Dantons Tod“, für den von Einem mit seinem Kompositionslehrer Boris Blacher das Textbuch aus Büchners Drama von 1835 zusammenstellten, als Publikumserfolg der Stunde Null nach dem Nationalsozialismus und als Aufbruch in eine demokratische Musikkultur.
Doch viele von deren Akteuren, zu denen auch der zum Zeitpunkt der Uraufführung 29-jährige Komponist gehörte, setzten ihre bereits vor 1945 begonnenen Karrieren fort. Das ist im Jubiläumsjahr von Einems für Regisseure und Dirigenten eine starke Herausforderung.
Symbolischer Blutregen und Abstraktion
Bis sie in den Wahnsinn gleitet, vervielfältigt Lucile am Hektographie-Gerät rote Flugblätter, die Camille schon vor Beginn der Aufführung in den Rängen des Gärtnerplatztheaters verteilt. Wie ein Blutregen fallen diese Aufrufe zum aktiven Widerstand bei der Hinrichtung Dantons und seiner Politikgefährten ins Parkett. Als Hintergrund von Herbert Schäfers Bühnenbild sieht man hohe Fabriktürme im Smog. Isabel Glathars Kostüme mischen Revolutionszeit, Belle Époque und mittleres zwanzigstes Jahrhundert.
Hier beginnt „Dantons Tod“ also noch einmal anders als die historisierende Inszenierung von Gärtnerplatztheater-Intendant Josef E. Köpplinger an der Wiener Staatsoper, für die er an seinem eigenen Haus den größtmöglichen Kontrast wollte. Oder die des Theaters Magdeburg, wo „Dantons Tod“ in atmosphärischer Kälte tatsächlich eine erschütternde Choroper wurde.
Epische Oper und Oratorium des Leidens
Man hat den Eindruck, dass Günter Krämer zwar subtile Bilder findet, aber weitaus lieber Brecht mit Musik von Hanns Eisler inszeniert hätte als Gottfried von Einem. Alles zielt auf ein fast oratorienhaftes Tableau des Leidens: Danton und seine Gefährten stehen den gesamten zweiten Teil halbnackt mit untereinander Trost spendenden Berührungen auf einem Tisch, unter dem Lucile wahnsinnig wird. Dahinter nimmt der aus Noten singende Chor Aufstellung zum pflichtbeflissenen Gedenkkonzert.
Das klingt dann auch fast wie Eislers „Deutsches Miserere“, nur weitaus weniger rabiat. Die künstlerischen Mittel, mit denen die Kunstform Oper gegenüber dem Schauspiel punkten könnte, lässt Günter Krämer mit nur schwer verständlichen Hintergedanken ungenutzt. Aber die Episodenfigur Julie wertet er auf zur Conferencière des Schreckens: Sona MacDonald lamentiert laut und überdeutlich aus Büchners Politpamphleten, als ginge es um die bleiche Mutter Deutschland am Berliner Ensemble: Melodram-Zusätze für die eigentlich fast durchkomponierte Partitur.
Szenische Synthese von Epischem Theater, Bildzitaten aus Goyas „Desastres de la guerra“ und Rainer Werner Fassbinder
Günter Krämer drängt es also zur Synthese von Epischem Theater, Bildzitaten aus Goyas „Desastres de la guerra“ und Rainer Werner Fassbinder. Das idyllisch falsche und in den Instrumentalfarben Orff zitierende Mond-Lied, mit dem Gottfried von Einem überdeutlich nationalsozialistisches Gemütsleben denunziert, übertragen Günter Krämer und Anthony Bramall von den beiden gestrichenen Henker-Figuren auf Robespierre und Saint-Just, die mit Zylinder und Fledermaus-Mänteln ihren schwebenden Abgang nehmen. Genre-Akzente verschiebt Günter Krämer vorsätzlich. Denn in „Dantons Tod“ wäre der Chor eigentlich ein Protagonist wie in „Boris Godunow“ oder „Nabucco“: Fahne im Wind, Waffe in den Händen der Mächtigen, Täter und Opfer.
Davon merkt man auf der Bühne des Gärtnerplatztheaters nichts und bringt deshalb Felix Meybiers hervorragende Einstudierung um die verdiente Wirkung. Wegen der szenischen Passivität und dadurch minimierten musikalischen Präsenz des Chors verschiebt sich die Aktion ganz auf die persönliche Ebene. Rührendes Intermezzo: Bei der fast kindlichen Power-Intensität der Lucile von Maria Célong sind Gedanken an die Münchner Widerstandsbewegung „Weiße Rose“ und Sophie Scholl nicht fern.
Lyrisches Musikdrama aus dem Orchester
Der fast bruchlose Positionswechsel Gottfried von Einems von der Faszination durch Hitler in die nach dem Zweiten Weltkrieg nahtlos genutzten Aufstiegschancen thematisieren GMD Anthony Bramall und das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz indirekt. Sie finden in Piano und Forte die tonal-chromatischen Bezüge Einems zur Vergangenheit und dessen ungefährliche Bodenhaftung in gemäßigter Modernität. Die Bläser zeigen Biss, die Streicher Rundungen und, das ist kein Fehler, alle zusammen eine emotionale Lyrik, die den epischen Ansatz der Regie mäßigt. Das hat Konsequenzen für fast das gesamte Solistenensemble.
Persönlichkeitsstarke Rollenvertreter
Denn in der Titelpartie erfüllt der Kroate Matija Meić beim Rollendebüt, das auch seinen Einstieg ins schwere Bariton-Fach markiert, zwar glänzend alle musikalischen Voraussetzungen. Das gilt auch für den mörderischen Kontrahenten Robespierre, den Daniel Prohaska mit seinem Tenor auf baritonalem Fundament und spannungsgeladener gefährlicher Glätte ausstattet. Ihnen ist der als Rollen- wie Stimmcharakter schöngeistige Alexandros Tsilogiannis in diesem Klangkontext einfach überlegen, was an der Produktion und weniger am Stückmaterial liegt.
In den kleineren Partien agieren persönlichkeitsstarke Rollenvertreter, denen man am Ende ebenso mit lautstarken Beifall dankt wie den Interpreten der Hauptrollen. Die Auseinandersetzungen über Gottfried von Einems Werk sind auch im Jubiläumsjahr noch nicht verstummt: Ob seine in Melodik und Instrumentation wirkungsvollen Werke Bestand haben oder ob dieses Jubiläum einem Résumé gleichkommt, ist ungewiss. Das entscheidet sich vor allem dadurch, ob man den progressiven oder den konstituierenden Werken des 20. Jahrhunderts die größere Aufmerksamkeit widmen wird.
Als Alternative zu den späten Opern von Richard Strauss haben „Dantons Tod“ und „Der Besuch der alten Dame“ vergleichbar starkes Potenzial und die unbestreitbar spannenderen Sujets.
Gärtnerplatztheater München
von Einem: Dantons Tod
Anthony Bramall (Leitung), Günter Krämer (Regie), Herbert Schäfer (Bühnenbild), Isabel Glathar (Kostüme), Felix Meybier (Chor), Matija Meić (Danton), Alexandros Tsilogiannis (Camille Desmoulins), Juan Carlos Falcón (Hérault de Séchelles), Daniel Prohaska (Robespierre), Holger Ohlmann (Saint-Juste), Mária Celeng (Lucile Desmoulins), Sona MacDonald (Julie), Christoph Seidl (Simon), Frances Lucey (Eine Dame), Ann-Katrin Naidu (Simons Weib), Liviu Holender (Hermann), Stefan Thomas (Ein junger Mensch), Chor und Extrachor des Staatstheaters am Gärtnerplatz, Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz
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