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Opern-Kritik: Gärtnerplatztheater München – Der junge Lord

Vorkommnisse von anno dazumal?

(München, 23.5.2019) Hans Werner Henzes Oper „Der junge Lord“ erntete Riesenjubel für eine großartige Ensembleleistung und das Produktionsteam.

vonRoland H. Dippel,

Lord Barrat randaliert im Ballsaal! Unter der Galamontur des falschen Ehrengastes steckt ein echter Affe, dessen unkonventionelle Manieren von allen Gästen im Herdentrieb nachgemacht wurden. Hier endet die Partitur. Es bleibt der Vorstellungskraft der Zuschauer überlassen, wie die Figuren ihre Scham oder Wut verkraften. Und ob Luise, die sich in den gut gekleideten Primaten verliebt hat, den emotionalen Scherbenhaufen zwischen ihr und dem Studenten Wilhelm beseitigen kann.

Nach der Gärtnerplatz-Erstaufführung in den späten 1970ern und der Inszenierung Günter Krämers an der Bayerischen Staatsoper in den 1990ern ist es jetzt Brigitte Fassbaender, die sich kurz vor ihrem 80. Geburtstag in der bereits dritten Münchener Produktion mit der komischen Oper Hans Werner Henzes auseinandersetzt. „Der junge Lord“ schaffte es seit der Uraufführung an der Deutschen Oper Berlin am 7. April 1965 mit einer beeindruckenden Aufführungszahl zum Dauererfolg. Ingeborg Bachmann hatte die Erzählung „Der Affe als Mensch“ aus Wilhelm Hauffs Novellenzyklus „Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven“ als Opernsujet entdeckt und Henze zu einem Werk in der Nachfolge der großen Ensemble-Stücke von Mozart bis Strauss inspiriert. Riesenjubel gab es nach der Premiere im Gärtnerplatztheater für eine großartige Ensembleleistung und das Produktionsteam.

Kleinstadt wie früher mit allem Drum und Dran

Levente Páll (Der Bürgermeister), Dieter Fernengel (Sir Edgar), Christoph Filler (Sir Edgars Sekretär), Ensemble, Chor und Kinderchor des Staatstheaters am Gärtnerplatz

Krähwinkel ist überall und heißt in „Der junge Lord“ Hülsdorf-Gotha. Die Kombination der Laute „G“ und „Ü“ scheint verdächtig: Dachte Henze, der aus dem Mief der Adenauer-Jahre nach Italien floh, bei Hülsdorf-Gotha an seine Geburtsstadt Gütersloh? Die etwas verschnarchte Idylle ist allgegenwärtig durch ein riesiges Modell der überschaubaren Phantasiestadt und Projektionen von Kamerafahrten durch deren Straßen. Da bringen es Brigitte Fassbaender und ihr Ausstatter Dietrich von Grebmer zu schönen und auch verräterischen Wirkungen. Denn die Kamerafahrten erzählen viel von den Anstrengungen, wie man Selbstbewusstsein mit Scheuklappen stabilisiert. Doch wehe, wenn Gäste das nur mit Gleichgültigkeit aufnehmen sollten …

Dieses Hülsdorf-Gotha hat alles, was eine authentische Idylle braucht: Eine neugotische Kirche, eng gereihte Häuser unter Giebeldächern am blitzblanken Hauptplatz, ein putziges Theater, leerstehende Immobilien mit eingeschlagenen Fensterscheiben. Aggressive Kinderscharen werfen mit großen Schneebällen auf das Palais des die honette Bürgerschaft meidenden Sir Edgar, der sich zweier Kapitalverbrechen schuldig macht. Erst übernimmt er die Standgebühr für den kleinen Wanderzirkus, den man aus Hülsdorf-Gotha heraushaben will, und lädt die Artisten in sein Palais, schlägt dessen Flügelportal aber vor den neugierigen Bürgern zu. Die kaum zu überbietende Ehre eines Besuchs bei der Baronin von Grünwiesel, der ersten Salonschönheit am Platze, sagt er in einem kühlen Schreiben ab. Alle Damen der besseren Kreise hat die nach Hülsdorf-Gothaer Maßstäben fast exzentrische Baronin eingeladen. Anwesend ist auch ihr mit Tanz-, Französisch- und Musikstunden aufgepepptes Mündel Luise, die aktuell allererste Wahl auf dem lokalen Heiratsmarkt. Und jetzt das!

Korrekte Umgangsformen kaschieren Risse im kleinen Paradies

Ensemble, Kinderchor und Chor des Staatstheaters am Gärtnerplatz

Die Kostüme stehen für den Chic mehrerer Generationen: Bei den langen Damenroben und gewagten, weil fast kniekurzen Röcken dominiert beruhigendes Lindgrün. Die Herren tragen Gehrock, Zylinder und Westen aus der guten alten Zeit vor 1914 mit mildem Ocker als gerade noch tolerierbaren Rand der Farbskala. Dagegen leuchtet es bei Sir Edgar, den Dieter Fernengel als aschgraue Nicht-Figur spielt, mit fremdartigen Türkis und Pink aus Cocktailgläsern in der Größe von Straußeneiern.

Korrekte Umgangsformen kaschieren Risse im kleinen Paradies. Brigitte Fassbaender gibt in der ersten Hälfte des Abends fast nur Ann-Katrin Naidu als Baronin von Grünwiesel die Bewegungsfreiheit für große bis großartige Gesten. Sogar Luise und Wilhelm (was für ein phänomenaler lyrischer Tenor ist Lucian Krasznec!) agieren stimmlich weitaus flexibler als körperlich. Den Honoratioren steckt der Besenstiel in Frack und Gehrock. Das Empörungspotenzial steigert sich parallel zur Enttäuschung über zu geringe Wertschätzung.

„Wehlcomens-Kultur“

Dieter Fernengel (Sir Edgar), Ann-Katrin Naidu (Baronin Grünwiesel), Maximilian Mayer (Lord Barrat), Chor des Staatstheaters am Gärtnerplatz

Der personenstarke Chor steht in Reih und Glied und wedelt beim Empfang des hohen Besuchs mit roter Schrift auf braunen Bannern. Eines der Symptome von Provinzialität ist hier chronische Schwäche in englischer Orthographie. Leger wird es später: Gut beleumundete Herren schnappen, inspiriert durch das als britischer Spleen bewunderte Betragen des Ehrengastes „Lord Barrat“, nach feinstem Porzellan und wagen mit den Damen sogar ein Ententänzchen. Man heuchelt Akzeptanz für Sir Edgars von Heimweh gepackte Haushälterin (Bonita Hyman) und den beim Gassi-Gang immer korrekt ein Hundekotsäckchen zur Anwendung bringenden Lakaien Jeremy (Deman Benifer). Aber Skepsis bleibt. Dieser Gesellschaft ist echter operettenhafter Taumel einfach fremd. Luise hat die für eine gute Partie unerlässliche Distinktion derart verinnerlicht, dass sie sogar nach der öffentlichen Vergewaltigung durch den Affen in Haltung einer höheren Tochter versteinert.

Der junge Lord: Komische Oper mit Hintersinn

Doch aus Mária Celengs Stimme blüht es. Die Musik späht in Herz und Sinne der beiden Hauptfiguren Luise und Wilhelm. Man gewöhnt sich mit fast undankbarer Schnelligkeit an die sagenhafte musikalische Qualität des Abends. Unter Anthony Bramall wirken Henzes melodiöse Vokalsätze und die Präzision der vielen Ensembles mit den synkopisch und rhythmisch schwierigen Begleitfiguren fast zu leicht, zu gekonnt und die Transparenz des Orchesters fast zu mühelos. Nicht einmal in der großen Arie, in der Luise sich ihre Leidenschaft für den vermeintlichen Lord Barrat eingesteht, reißt die musikalische Dimension hoch zum großen Drama. Henze und Bachmann ließen offen, ob Hülsdorf-Gotha wieder in die alten Geleise zurückfindet oder ob es nach dem Eklat zum bösen Endknall kommt. Bei dieser Produktion könnte man fast glauben, dass derartige Vorkommnisse jetzt endgültig der Vergangenheit angehören. Oder doch nicht?

Gärtnerplatztheater München
Henze: Der junge Lord

Anthony Bramall (Leitung), Brigitte Fassbaender (Regie), Alessio Attanasio (Choreografische Mitarbeit), Dietrich von Grebmer (Bühne und Kostüme), Felix Meybier (Chor), Wieland Müller-Haslinger (Licht), Raphael Kurig, Thomas Mahnecke (Video), David Treffinger (Dramaturgie), Mária Celeng (Luise), Lucian Krasznec (Wilhelm), Ann-Katrin Naidu (Baronin Grünwiesel), Dieter Fernengel (Sir Edgar), Christoph Filler (Sir Edgars Sekretär), Maximilian Mayer/Brett Sprague (Lord Barrat), Bonita Hyman (Begonia), Levente Páll (Der Bürgermeister), Liviu Holender (Oberjustizrat Hasentreffer), Holger Ohlmann (Ökonomierat Scharf), Juan Carlos Falcón (Professor von Mucker), Anna-Katharina Tonauer (Frau von Hufnagel), Jennifer O’Loughlin (Frau Oberjustizrat Hasentreffer), Ilia Staple (Ida), Elaine Ortiz Arandes (Ein Kammermädchen), Alexandros Tsilogiannis (Amintore La Rocca), Martin Hausberg (Ein Schneeschipper), Chor, Extrachor und Kinderchor des Staatstheaters am Gärtnerplatz, Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz

Sehen Sie den Trailer zu „Der junge Lord“ am Gärtnerplatztheater:

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