München in den späten 1970er und 1980er Jahren bestand nicht nur aus Freddie Mercury, Rudi Moshammer und Walter Sedlmayr. Damals hatte Dagmar Hellberg nach Thomas Gottschalk „Pop nach acht“ moderiert und ist seither eine der Säulenheiligen des deutschen Musicals. Ihr schrieben jetzt Peter Lund und Wolfgang Böhmer im Auftrag des Münchner Staatstheaters am Gärtnerplatz ein Stück auf den Leib. Dieses spielt Dagmar Hellberg und das um sie versammelte Wunderteam mit liebenswerten Klischees aus der Zeit, als in München der Bär tobte und die sexuelle Revolution allmählich müde wurde. „Wer länger liebt, ist später tot!“ affirmiert der zweite Titel kleingedruckt.
Das Erfolgsduo wäre aber nicht Böhmer & Lund, wenn sie sich mit Nostalgie begnügen und darin steckenbleiben würden. Steckenblieb bei der Premiere nur die Elektronik und konnte man deshalb nur zeitversetzt beginnen. „Lehnen Sie sich zurück und unterhalten Sie sich über die 1970-er“ tröstete Hausherr Josef E. Köpplinger bis zum Start. Viele Zeitzeugen der Alternativ-Szenen aus „Kir Royal“- und „Monaco Franze“-Zeiten saßen im Publikum. Sie jubelten, die Jüngeren auch.
Weise, fit und sexy
Dagmar Hellberg spielt eine Rosie, die sich auf der eher mittelmäßigen Erfolgswelle mit viel Lebenswitz, Spaß und als alleinerziehende Mutter eines – woher hatte er das bloß? – zum schwäbischen Muster-Architekten mutierenden Sohnes (Armin Kahl) eingerichtet hat. Auch Enkelin Hanna und deren schnöselig korrekter Lebenspartner Maximilian Aubauer passen nicht so recht in die Runde der Bestager bei Rosies 70. Geburtstag. Liebevoll hat Rainer Sinell Rosies Heimathafen im legendären und längst hart gentrifizierten Schwabing gestaltet. Pinke Wandfarbe und ein Poster der schnieken Rosie von früher. Mit Curlies. Vom Olympiadackel 1972 bis zu Ulla-Popken-Moden hat Sinell alles Symbolträchtige distinguiert platziert und genutzt. Solche Accessoire-Zitate aus Rosies erfülltem Lebens erzählen viel.
Das Publikum nimmt durch diese (Nord-)Schwabinger Wohnung mit Balkon seine Wege zu den Plätzen. Peter Lund, der Meister des intelligenten Musicals, erarbeitet seine Stücke lieber mit Darstellern als am Schreibtisch. Deshalb macht er die Versiertheit der Musik aus allen Stilen und Lifestyles der letzten Jahrzehnte, die treffsichere Gestaltung durch die vier Rockin‘ Rosies in der angedeuteten Seitengarage, fast vergessen. Komposition und Sounds schmiegen sich dank Wolfgang Böhmer und Andreas Partilla perfekt und filigran ins Geschehen ein. Zwischen Rosies eröffnendem und als Finale angeheftetem Song „Heute ist mein Tag“ unterfüttern sie verschiedenen „Freiheit“-Gedanken mit versierten Beats. Sie reanimieren Zeitstile und nie penetrantes Kolorit fast ohne Münchner Gefühl, wie Herbert Achternbusch gesagt hätte. Klar: In digitalen und physischen Musicalführern wird „Rockin‘ Rosie“ als Fortschreibung der Gattung des Musikalischen Lustspiels Eingang finden.
Renaissance des Musikalischen Lustspiels
Mit einem entscheidenden Unterschied zu früher. Anders als zum Beispiel in Paul Burkhards Klassiker „Feuerwerk“, in dem die Zirkusdirektorin Iduna mit dem Hit „O mein Papa“ engstirnige Spießbürger windelweich klopft, sind in „Rockin‘ Rosie“ die Hedonisten, Kiffenden und Freigeister der Status Quo, die eindringenden Nachkommen der Sohn- und Enkelgeneration aber die unliebsamen Störenfriede. Schwiegerenkel Maximilian Aubauer visioniert ein fesches Mehrgenerationen-Renditeobjekt aus Rosies Garage, dem früheren abgefahrenen Probenort ihrer Band. Daraus wird nichts. Aber bei Enkelin Hanna fällt am Ende allmählich der Groschen, dass Optimierung nach dem spätkapitalistischen Tugendkatalog des 21. Jahrhunderts nicht alles ist. Florine Schnitzel und Peter Neustifter haben als Fast-Jüngste im Cast die Schwarze-Peter-Partien. Und so merkt man auch im Musiktheater: Sujets über die Generation 50+ sind stark im Kommen.
Lund und das Ensemble wuchten eine mega-unterhaltsame Studie über Generationenwandel und drohende moralische Versteinerung auf in den kleinen Saal. Sie zeigen das München, als Freddie Mercury und Barbara Valentin dort um die Häuser zogen, vom nicht ganz so magischen Edge der In-Szene. Und auch noch der Jahre davor. Frances Lucey macht aus Uschi, deren reales Vorbild klar sein dürfte, eine unbremsbare Superfrau mit wenig Geld, flotten Formen und viel vegetativer Lebenserfahrung, die sie trotz schleichender Krankheit regelmäßig erweitert. Das Trio von Rosies Langzeit-Verehrern – wie pedantisch spricht die junge Generation von 46 Hinhalte-Jahren! – hat Farbe und Klasse. Alexander Franzen, Frank Berg und Erwin Windegger mögen vielleicht graue Schläfen haben, sind aber keineswegs abgehalfterte Lebemänner. Und der ausgefuchste Enkel Vinzenz (Gunnar Frietsch) trägt den Spirit der Hippie- und Hedonisten-Szene mit Exaltation in die junge Generation – leicht vergröbert. Noch immer befinden sich die Joint-Tüten und Sahneschnitten auf und vor den Tellern von Rosies fröhlicher Geburtstagstafel.
Ein Qualitätssiegel für Josef E. Köpplingers intelligente und weitsichtige Ensemble-Struktur
Es wird spannend, welche Bühne „Rockin‘ Rosie“ als nächstes spielt. Der Stoff passt ins Ruhrgebiet, ins Saarland, nach Wien und in fast jede westdeutsche Großstadt, wo es um 1980 eine libertinäre Spaßfraktion gab. Der Abend ist ein Qualitätssiegel für Josef E. Köpplingers intelligente und weitsichtige Ensemble-Struktur. Die reiferen der Gärtnerplatz-Granaten sind eine Klasse für sich, welche im Münchner Glockenbach-Viertel auch den „Vetter aus Dingsda“ wie Pigors zu Silvester endlich wieder anstehendes Erich-Kästner-Musical „Drei Männer im Schnee“ bereichern. In dieses Repertoire passt die originelle Regionalfarbe in „Rockin‘ Rosie“ bestens.
Staatstheater am Gärtnerplatz München
Böhmer/Lund: Rockin‘ Rosie
Andreas Partilla Leitung), Nicole Claudia Weber (Regie), Rita Barão Soares (Choreografie), Rainer Sinell (Bühne & Kostüme), Michael Alexander Rinz (Dramaturgie), Dagmar Hellberg, Frances Lucey, Alexander Franzen, Frank Berg, Erwin Windegger, Armin Kahl, Gunnar Frietsch, Florine Schnitzel, Peter Neustifter, Christoph Schultheiß, Matej Varga, Simon Kurz, Andreas Partilla