Eine Siegerin tritt ab. Sie hat alles erreicht, mal wieder ihren Willen durchgesetzt: Fricka triumphiert, diese ihrer selbst gewisse, in strengem Schick gekleidete, so unnahbare Dame von Welt, die Hüterin der Ehe, des Anstands, der klaren Regeln. Ihrem Mann hat sie die Zusage abgetrotzt, Sohn Siegmund fallenzulassen, den ihr verhassten Sproß, der aus einem von vielen Seitensprüngen ihres Gatten hervorgegangen ist und nun seinerseits die heilige Institution der Ehe durch die wahre Liebe zu seiner leiblichen Schwester gebrochen hat. Lieber spät als nie kann Fricka jetzt ihre Dominanz gegenüber ihrem Gatten demonstrieren, der seiner einst überaus ausgeprägten Potenz wohl längst verlustig gegangen ist.
Dieser Wotan ist kein herrischer Bauherr von Walhall mehr, sondern der traurige Gott, der in den Trümmern der eigenen Welt nach den letzten rettenden Bausteinen sucht und nun als letzte Hoffnung die Mär vom rettenden freien Helden in die Welt setzt. Und wie wunderbar einfach zeigt Fricka, wer hier im Haus das Sagen hat? Im Abgehen küsst sie Wotan, der an seinem vollgemüllten Schreibtisch sitzt, wie nebenbei auf den Kopf. So will sie ihm sagen: „Dankeschön Papachen, Du hast mal wieder wirklich alles richtig gemacht.“ Will sagen: gemacht, was ich Dir gesagt habe.
Ein Kuss, der fast alles sagt
Es sind solche kleinen feinen Gesten in der Regie des von Göteborg nach Glyndebourne wechselnden Stephen Langridge, die seine Regiearbeit in diesem „Ring des Nibelungen“ so groß machen. Es braucht gar keinen Aktionismus, gar keine aufpeppende Überfrachtung durch ein Zu viel an Videos, keine überladene Deutungsambition, um diesem ersten kompletten „Ring“ am Kattegat, der jetzt mit „Die Walküre“ an der Göteborgs Operan in die zweite Runde geht, etwas Exemplarisches zu verleihen.
Schon in „Das Rheingold“ war es ganz am Anfang wiederum ein Kuss, der alles sagte. Innig umschlungen standen da zu Beginn eine Frau und ein Mann, beide namenlos, in der Bühnenmitte, liebkosten sich mit der Zärtlichkeit des ersten Mals und wollten selbst dann nicht voneinander lassen, als das aus dem Raunen der Kontrabässe sich entwickelnde initiale Es-Dur angeschwollen war zum wagnerschen Klangstrom, der vom Werden der Welt kündet. Das junge Paar presste weiter seine Lippen aufeinander und hatte nur Augen füreinander, auch dann noch, als mit dem Auftritt Alberichs der unschuldige Urzustand des Menschseins alsbald in Gefahr und aus dem Lot geriet.
Wie eine Schneise des Egoismus tief in die Eingeweide des Menschlichen schneidet. Und Bienen-schwärme auf dem Dach des Opernhauses zum Gegenbild werden
Eine Kultur der Achtsamkeit bestimmt nun auch „Die Walküre“ und wird zum menschenfreundlichen Gegenbild zu jener Wunde, jener Plünderung der Natur, die Alberich und Wotan, jeder auf seine Weise, als Schneise des Egoismus tief eingeschnitten haben in die Eingeweide des Menschlichen. Deutlich früher übrigens, als sich eine schwedische Teenagerin namens Greta die Rettung des Klimas auf die Fahnen geschrieben hat, heißt eines der zentralen Themen Göteborgs: Nachhaltigkeit. Dies durchaus nicht im Sinne von allseits angesagtem Zeitgeist-Sprech der politisch korrekten Gutmenschen und Immer-Schon-Mülltrennenden. Sondern als echtes Anliegen. Die Bienenschwärme auf dem Dach des Opernhauses sind nur ein schlichtes Beispiel hierfür. Die Belegschaft der Oper achtet seit vielen Jahren mit Enthusiasmus darauf, dass das Theater einen nachweislich hohen Level an Nachhaltigkeit erreicht. Die Kulturinstitution spielt eine gesellschaftliche Vorreiterrolle, bietet Best Practise-Beispiele, spürt über einen Publikumswettbewerb Klimahelden auf. Die Energie im Opernhaus speist sich ohnehin längst ausschließlich aus erneuerbaren Quellen. Dieses praktisch gelebte Selbstverständnis nun auch mit der Entwicklung eines Werks zu verbinden, das mit seinen vier Teilen in besonderem Maße prozessual ist und dazu inhaltlich um die Zerstörung natürlicher Abläufe und scheinbar ewiger Gesetze kreist, erschien dann irgendwann schlichtweg logisch.
Für das Bühnenbild, das primär aus Holz besteht, musste kein Baum gefällt werden, denn es wurde Späne recycelt; die Walhall-Spanplatten, die wie täuschend echter Marmor aussehen, erweisen sich nun gar als akustisch ausgesprochen günstig. Und eine der Ursünden der „Ring“-Handlung wird endlich einmal zwingend sichtbar: Wotan schneidet seinen Speer schließlich aus der Weltesche heraus, folglich ist dieser Speer ein langer abgeschnittener Ast, seine „natürliche“ Herkunft unmittelbar augenfällig.
Eine sängerdarstellerische Interpretin, die sich in die Ahnengalerie legendärer Rollenvertreterinnen vom Schlage einer Leonie Rysanek, Nina Stemme und Waltraud Meier einreiht
Stephen Langridge liefert mit „Die Walküre“ freilich keine theatralische Öko-Vorlesung ab, sondern bildstarkes, ehrliches, starkes Musiktheater, das die Figuren nicht dekonstruiert, sondern ihren Konflikten und Hoffnungen feinfühlig nachspürt. Ideal gelingt dem Briten die Zeichnung der Sieglinde, die in Elisabet Strid eine sängerdarstellerische Interpretin stellt, die sich in die Ahnengalerie legendärer Rollenvertreterinnen vom Schlage einer Leonie Rysanek, Nina Stemme und Waltraud Meier einreiht. Die Schwedin vollzieht jede psychische Regung der womöglich positivsten Wagner-Frauen nach, vollzieht die Wandlung von der verhärmten Hunding-Gattin zur alle gesellschaftlichen Schranken überwindenden Liebenden wunderbar nach, führt ihren nordisch dunklen, in der Höhe herrlich aufblühenden Sopran in musikalisch hoch intelligenter Phrasierung, ist dazu eine blendende, schlank schöne Erscheinung.
Richard Wagners in der Sieglinde zur Vollkommenheit gelangte Menschenfreundlichkeit macht an diesem Premierenabend alle Vorbehalte gegenüber dessen bitterböser Judenfeindlichkeit vergessen. Selten wird so deutlich, wie ideal Wagner in der Sieglinde, der fragenden Frau, der Begabung zur Empathie gehuldigt hat.
Die Naivität, die Zärtlichkeit und die Humanität einer neuen Welt
Es sind denn auch die berückenden „schönen Stellen“ der Partitur, die in Göteborg auf einmal ihr Utopiepotenzial wieder wie beim ersten Mal evozieren. Gerade der erste Aufzug gewinnt in der Annäherung von Siegmund und Sieglinde die Naivität, die Zärtlichkeit und die Humanität einer neuen Welt. Dies liegt auch an Brenden Gunnell, der seinen wohlklingenden jugendlichen Heldentenor nie präpotent protzend, sondern in ungewohnter männlicher Verletzlichkeit und liedhafter Lyrik einsetzt. Äußerlich ein Wikinger, wie er im Buche steht, steckt in der harten Schale ein weicher Mann voller romantischer Liebesfähigkeit.
Evan Rogister am Pult des Göteborgs Operans Orkester atmet vorbildlich mit den Sängern, nimmt sich Zeit zum Ausmusizieren, zum Nachlauschen von Textnuancen. Seine Tempi sind flexibel, die Übergänge geraten geschmeidig, sein Wagner-Bild spricht nicht von Überwältigung, sondern von Menschenliebe und Feinsinn. Fast auf dem Niveau des Weltklasse-Wälsungenpaars gestaltet Katarina Karnéus ihre prägnant dominante Fricka. Fast mädchenhafte Jubeltöne findet Annlouice Lögdlung für die Brünnhilde. Bassgewaltig, aber mit knödeligen deutschen Vokalen singt Mats Almgren den Hunding, zu spät kommt der kräfteraubende Walküren-Wotan für Anders Lorentzson, der sich mit der hohen Tessitura der Partie schwer tut.
Göteborgs Operan
Wagner: Die Walküre
Evan Rogister (Leitung), Stephen Landgridge (Regie), Alison Chitty (Ausstattung), Paul Pyant (Licht), Brenden Gunnell, Mats Almgren, Anders Lorentzson, Elisabet Strid, Annlouice Löglund, Katarina Karnéus, Göteborgsoperans Orkester