Fake news haben weder der amtierende amerikanische noch der russische Präsident erfunden. Denn es gibt sie seit eh und je, und es wird sie vermutlich immer geben. Zu Zeiten des Zaren Boris Godunow, der anno 1598 den Thron bestieg und ihn 1605 tot verließ, war es nicht anders. Es müssen gar nicht immer politisch motivierte Morde sein, zumal gezielt lancierte Lügen waren und bleiben das probate Machtmittel, Aufstieg und Fall von Herrschern zu befördern.
Ob eigene Erfahrungen des einstigen Burgtheater-Intendant Matthias Hartmann in seine jetzige Regie-Konzeption eingeflossen sind, ist uns nicht überliefert. Und es tut auch nichts zur Sache. Anschauungs- und Assoziationsmaterial gibt es in jeder Nachrichtensendung zuhauf.
Die Manipulation der Massen hat System
Hartmann lässt das historisch präzis verortete Stück in einer nicht näher definierten Gegenwart spielen – in einem Land, das von seinen guten Freunden schon mal als lupenreine Demokratie belobigt wird, im Kern aber immer noch nach den Unterdrückungsmechanismen funktioniert, die sich seit langem bewährt haben, steht denn nun Kommunismus oder Kapitalismus als Label auf dem System.
Die jeweilige politische Gallionsfigur ist darin Täter und Opfer zugleich. Das macht Hartmann von Beginn an deutlich. Sein Boris Godunow ist gar nicht die treibende Kraft des Bösen, die den rechtmäßigen Thronfolger rechtzeitig ausgeschaltet hat, um eigene Interessen zu verfolgen. Vielmehr ziehen in diesem Überwachungsstaat Apparatschik-Militärs und -Beamte die Fäden. Sie überreichen Boris gleich zu Anfang den vorgeschriebenen Text seiner ersten Rede an die Nation, in dem er, Taktik ist alles, zunächst das ihm angediente Amt des Zaren ablehnen soll. Die Manipulation der Massen hat System.
Boris Godunow: Der Zauderer-Zar
Der neue Zar ist ein Getriebener dieses Systems. Anders als Shakespeares Macbeth nun nicht ein vom schieren Ehrgeiz seiner Gattin getrieben, sondern von den Interessen der Bonzen: Sie und ihre Methoden bleiben, der Zar ist austauschbar. Diese keineswegs optimistisch stimmende These durchzieht Hartmanns Interpretation, der Boris als ängstlichen Zauderer zeichnet, der in sein Amt geradezu gedrängt werden muss.
Eine Besetzung wider die Boris-Klischees
Zum Regiekonzept passt die Besetzung. Denn Mikhail Petrenko in der Titelpartie ist mal so gar kein dröhnender Bass-Brüller, der bruststimmig versteift den Massen zu imponieren gedenken würde. Petrenko widersetzt sich den Boris-Klischees. Seine in Pianotönen differenzierte Vokalpalette zeugt geradewegs vom zunehmenden Ekel am Amt, der besonders in der berührenden Szene zu Hause bei seiner Familie zum Ausdruck kommt.
Hier im neureichen Ambiente seines Heims ist er ein treusorgend verständiger Vater, der sich selbst als Opfer des Systems und der ihn gesetzten Erwartungen sieht. Vertreter der zweiten Macht im Staate, der orthodoxen Kirche, ist der Mönch Pimen, der als Chronist des Geschehens zumal den Mord am Zarewitsch für die Nachwelt festhält. Vitalij Kowaljow schenkt ihm altehrwürdiges Charisma, in sich ruhende ruhige Autorität und die edle Urgewalt seines Basses – und übertrifft Petrenko auch in der Gunst des Genfer Publikums noch. Zu Recht.
Kann man so machen, muss man aber nicht
Im Bilderbogen der vielen schnellen Szenenwechsel der dicht gedrängten Urfassung des „Boris Godunow“ gibt Hartmann immer wieder dem Affen Zucker. Allzu deftig klamottig gerät ihm die Szene in der Schenke der Wandermönche Warlaam und Mussail. Bass Alexey Tikhomirov ist dazu mit gigantischem Bauch, Tenor Andrej Zorin mit Mitleid erregendem Buckel ausgestattet. Das kann man so machen. Muss man aber nicht.
Ungeschminkte Wahrheit der Musik
Bleibenden Eindruck macht der Abend indes weniger durch Regie und Bühnenbild, für das Volker Hintermeier eine flexibel die Szenenwechsel ermöglichende Stahlgerüst-Konstruktion ersonnen hat. Sondern durch die grandiosen musikalischen Kollektive. Der Chor des Grand Théâtre de Génève hat eine Wucht und Wärme und Homogenität, dass es einen umhaut.
Mussorgskis Absicht, den Chor des leidenden russischen Volkes zum heimlichen Hauptprotagonisten zu machen, wird in Genf grandios umgesetzt. Und das Orchestre de la Suisse Romande schärft unter Maestro Paolo Arrivabeni die illusions- wie kompromisslose Härte der Partitur, die uns hier wie eine Art russischer Verismo vorkommt. Ungeschminkte Wahrheit. Doch Arrivabeni kitzelt auch hoch sensibel ungeahnte Details und Zwischentöne heraus, vermittelt mit Feinsinn die seelischen Abgründe, in die uns Mussorgski zu blicken zwingt. Die dunkle Gewalt der Handlung bleibt in jedem musikalischen Moment am Brodeln.
Grand Théâtre Génève
Mussorgski: Boris Godunow
Paolo Arrivabeni (Leitung), Matthias Hartmann (Regie), Volker Hintermeier (Bühne), Malte Lübben (Kostüme), Mikhail Petrenko, Serghej Khomov, Andreas Conrad, Vitalij Kowaljow, Roman Burdenko, Marina Viotti, Melody Louledjian, Alexey Tikhomirov, Andrej Zorin, Mariana Vassileva-Chaveeva, Boris Stepanov, Victoria Martynenko, Orchestre de la Suisse Romande, Choeur du Grand Théâtre de Génève
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