„Wie sich die Bilder gleichen“, singt der Maler Mario Cavaradossi im ersten Akt von Puccinis „Tosca“, als er die Schönheit (und die Augenfarbe) seiner Geliebten und jener der Maria Magdalena vergleicht, die der Künstler in der römischen Kirche Sant‘Andrea della Valle gerade auf Leinwand bannt. Er tut dies in einer jener maximal wirkungsvollen tenoralen Kurzstreckenarien, auf die sich offenbar kein Komponist so genialisch verstand wie Giacomo Puccini. Doch womöglich macht ihm Umberto Giordano den Rang streitig, der mit seiner „Fedora“ – kaum mehr als ein Jahr vor der zu Anfang 1900 aus der Taufe gehobenen „Tosca“ – womöglich bereits das Modell schuf: Der schwärmerisch wie melancholisch sich verströmende Arienhit „Amor ti vieta“ ist bereits nach 100 Sekunden vorbei, man wünscht sich viel mehr davon, bekommt dessen prägnanten melodischen Einfall dann im Laufe der Oper immerhin als Erinnerungsmotiv im rein orchestralen Gewand geboten, wenn Fedora an die erste Begegnung mit Loris zurückdenkt. Am Grand Théâtre de Genève darf Roberto Alagna zur Premiere das (zur Uraufführung einst von Enrico Caruso intonierte) Signet der Oper zum Besten geben, anhimmeln darf er dabei Aleksandra Kurzak, mit der im wahren Leben ein Paar bildet – die beiden mutieren in Genf nun in der Tat zum Traumpaar der Oper.
Die Geschichte wiederholt sich
Wie sich die Geschichte weltpolitisch wiederholt, so gleichen sich die Bilder in „Tosca“ und „Fedora“. Nicht nur, weil hier wie da ein Theater-Thriller mit der legendären Heroine Sarah Bernhardt aus der Feder des Victorien Sardou für die nachfolgenden Opern Pate stand, wobei die einstigen Schauspielversionen längst von den Bühnen verschwunden, die Fassungen fürs Musiktheater aber seit mehr als hundert Jahren für volle Säle sorgen. Sondern auch, weil die sich gleichenden Bilder mitsammen von Sex and Crime – and Politics erzählen, von übelsten Intrigenabgründen, schneller Liebe und spontanem Totschlag, wenn denn der Ehemann seinen Nebenbuhler mit der eigenen Gattin erwischt.
Auf den ersten Blick riecht die „Fedora“ nach einem späten Kolportageroman des 19. Jahrhunderts. Da wartet im St. Petersburg des Jahres 1881 Fürstin Fedora Romazoff auf die Hochzeit mit Graf Vladimir Andrejevich. Doch der hat sie in der Nacht davor noch mit einer anderen betrogen. Deren Mann, Loris Ipanoff, wiederum entdeckt die beiden in flagranti, wird dabei von Vladimir angeschossen, den er daraufhin tödlich verletzt. Fedora schwört Rache, trifft Loris in Paris wieder, den sie in einem nach Russland gesendeten Brief des Mordes beschuldigt. Die beiden verlieben sich, doch das Räderwerk des Schicksals und der Politik verhindert ihr Glück, auch als sie sich im Berner Oberland scheinbar in Sicherheit befinden. Fedora fühlt sich durch ihren Brief schuldig am Tod von Loris‘ Familie. Sie nimmt Gift und stirbt in den Armen des Geliebten.
Die grauen Männer und Frauen eines düsteren Systems
In seiner Genfer Regie verlegt Arnaud Bernard das Geschehen gemeinsam mit seinem Ausstatter Johannes Leiacker aus dem spätzaristischen Russland in die Umbruchzeit der späten Glasnostphase, in der die anfänglichen Hoffnungen auf ein postsowjetisches freies Russland der Erkenntnis gewichen sind, dass die alten Strukturen der flächendeckenden und gnadenlosen Überwachung des Einzelnen unvermindert weiter bestehen. Der KGB mochte im Dezember 1991 offiziell aufgelöst worden sein. Die Wirkungsmacht der Geheimdienste und der Geheimpolizei wurde seitdem indes nur technologisch verfeinert und brutal perfektioniert. So wird denn auch bereits die noch vor dem ersten Giordano-Ton saftig ausgespielte Sexszene der Affäre von Fedoras Verlobtem mit Loris‘ Frau in einer Art rotlichtigem Edelbordell von einer Videokamera aufgezeichnet und live in die Kommandozentrale der grauen Männer eines düsteren Systems überspielt. Big Brother is watching you – und wenn es durchs Schlüsselloch hindurch in intimste Bereiche sein muss.
Spioniert wird allenthalben, die Überwachung funktioniert bestens, wer auch immer da gerade an der Spitze des Staates steht. Im ersten Akt, in dem Arnaud Bernard die Unmöglichkeit des Privaten im Angesicht der politischen Allmacht vorführt, wirken die fiesen, mitunter überzeichnet grotesken Gestalten einer finsteren Welt noch allzu plakativ. Läuft da gar ein Wiedergänger Lenins in Slow Motion durchs Bild? Das Konzept einer Gesellschaft, in der es – frei nach Adorno – kein wahres Leben im falschen geben kann, wird denn doch allzu dekorativ ausgebreitet. Der fiese Chirurg, der Fedoras Verlobtem unter krassen Schmerzensschreien, wie sie dann auch ein Cavaradossi in seiner Folterszene ausstößt, die Pistolenkugel aus der Brust entfernt, der bringt den jungen Mann dann in einem unbeobachteten Moment mal schnell um die Ecke. Die Bösen sind hier noch richtig böse.
Es ist nicht alles wahres Gold, was glänzt
Doch die holzschnittige Opern-Kolportage wird alsbald weit differenzierter ausgearbeitet und damit dann auch überwunden und in ein zu Herzen gehendes Drama verwandelt. Im zweiten, dem Paris-Akt, vertraut der Regisseur nach der deftigen Exposition des ersten weit mehr der Macht der Musik – und jener des Gesangs. Das Ambiente, das Johannes Leiacker erdacht hat, spricht gleichwohl Bände. In jedem Akt variiert er die These, dass nicht alles wahres Gold ist, was glänzt. Auf dem Pariser Maskenball gemahnen die hohen güldenen Wände an die Grandezza eines Salons, wie er auch Verdis „La traviata“ gut zu Gesichte stehen würde. Eine einzige starke Bildfindung reicht hier aus, um die konstante Gefährdung des schönen Scheins zu verdeutlichen: Am Rande der luxuriösen Zusammenkunft sitzt eine regungslose graue Maus – eine Frauengestalt als Abgesandte des alles sehenden Big Brother. Der KGB ist überall. Dessen Grau macht das Gold fahl.
Gleichwohl darf Alagna nun sein seit bald 40 Jahren ungebrochenes tenorales Charisma verströmen, auch wenn es eben zunächst nur die 100 Sekunden seines „Amor ti vieta“ sind. Noch stärker wird der Sängerstar in der folgenden Erzählung und im großen Duett mit Fedora – dem heimlichen Höhepunkt des Stücks, in dem Giordano beweist, dass er eben kein kleiner Puccini ist, sondern – mindestens – auf Augenhöhe mit seinem Zeitgenossen komponiert hat. Aleksandra Kurzak und Roberto Alagna gehen auf die Knie, wälzen sich auf dem Boden. Ach, das ist ganz große Oper, Sängeroper zumal, die ihre Wirkung ohne Umschweife entfaltet und gar nicht in jedem Moment der psychologischen Feinzeichnung bedarf.
Detailverliebte Delikatesse des Orchesterklangs
Giordanos kompositorische Gewitztheit offenbart sich in seinen klugen Einsprengseln von musikalischem Lokalkolorit, das die russischen, französischen und schweizerischen Schauplätze konzis nachzeichnet. Gar ein Nachfolger Chopins darf im Salon am Flügel aufspielen, er trägt die üppige Haartracht des Franz Liszt. Welch‘ eine intelligente, eben nie nur herzerwärmenden Partitur! Maestro Antonino Fogliano und das Orchestre de la Suisse Romande zeigen denn auch famos, welche Zwischentöne in den Notenzeilen stecken, sie verfeinern mit Fortune, legen die Polyphonie und Nebenstimmen offen, zelebrieren lukullische Pianissimi. Der Umberto Giordano des Antonio Fogliano hat ganz viel detailverliebte Delikatesse und weit weniger Dekor der Oberflächenreize oder gar kompositorische Kolportage, als man bei ihm sonst zu hören bekommt.
Das Sängerensemble, bis in die Nebenrollen prägnant besetzt, dankt es dem Dirigenten. Neben Alagna und seiner heldischen, gleichwohl mediterran glänzenden und abschattierten Strahlkraft, die auch in der Höhe nichts an Fokus eingebüßt hat, glänzt Aleksandra Kurzak mit ihrem cremigen, aristokratischen, eleganten, in der Mittellage an Fülle gewonnenen Sopran, der seine lyrischen Wurzeln nicht leugnet, in der vokalen Fedora-Anlage darin an Mirella Freni erinnert und doch stets damenhafte Herrin des Stimmgeschehens bleibt. Intendant Aviel Cahn macht den Melomanen des Grand Théâtre de Genève ein üppiges Weihnachtsgeschenk und zeigt damit: Sänger-, respektive Startheater und Regietheater schließen sich keineswegs aus.
Grand Théâtre de Genève
Giordano: Fedora
Antonino Fogliano (Leitung), Arnaud Bernard (Regie), Johannes Leiacker (Bühne & Kostüme), Yamal Das Irmich (szenische Mitarbeit), Fabrice Kebour (Licht), Paul-Henry Rouget de Conigliano (Video), Mark Biggins (Chor), Aleksandra Kurzak, Roberto Alagna, Simone Del Savio, Mark Kurmanbayev, Yuliia Zasimova, David Greilsammer, Sebastiá Peris. Vladimir Kazakov, Louis Zaitoun, Igor Gnidii, Georgi Sredkov, Rodrigo Garcia, Céline Kot, David Webb, Chœur du Grand Théâtre de Genève, Orchestre de la Suisse Romande
Sa, 21. Dezember 2024 20:00 Uhr
Musik
Giordano: Fedora
Simone Del Savio (De Siriex), Mark Kurmanbayev (Grech), Yuliia Zasimova (Olga Sukarev), Antonio Fogliani (Leitung), Arnaud Bernard (Regie)
So, 22. Dezember 2024 15:00 Uhr
Musik
Giordano: Fedora
Simone Del Savio (De Siriex), Mark Kurmanbayev (Grech), Yuliia Zasimova (Olga Sukarev), Antonio Fogliani (Leitung), Arnaud Bernard (Regie)