So baritonviril, so kerngesund, so markant und männlich intoniert Robin Adams die Worte des Heiligen Franziskus, dass man dem Briten zunächst gar nicht abnimmt, dass er mit seiner Figur einen Weltabschiedsweisen portraitiert, der christusgleich die Stigmata des Heilands empfängt, dessen Leiden am eigenen Körper nachvollzieht und sich schließlich ähnlich jung wie der Messias selbst in die Ewigkeit verabschiedet. Ganz anders also als José van Dam, der legendäre Sänger der Pariser Uraufführung des „Saint François d‘Assise” anno 1983, ist hier kein früh und bekenntnishaft dem wahren Leben entrückter Mann Gottes zu erleben, der entsprechend leise, nach Innen zielende, transzendente Töne anstimmen würde. Robin Adams legt die Opern-Reinkarnation jenes Mannes aus Umbrien, nach dem sich auch der aktuelle Papst in Verneigung vor den Armen dieser Erde benannt hat, also vokal dezidiert anders an. Sein stimmliches Portrait des Saint François, wie der Begründer des Franziskaner-Ordens bei Olivier Messiaen und dessen französischem Libretto heißt, passt freilich dezidiert zur Neuinszenierung am Grand Théâtre de Genève. Hier feierte das selbst Richard Wagners Hang zum Monumentalen (in Sachen Aufführungsdauer wie Besetzungsgröße) noch sprengende Opus summum des Komponisten und Katholiken, Ornithologen, Organisten und Synästheten nun seine umjubelte Premiere.
Gesamtkunstverantwortung des Adel Abdessemed
Wie also der Sänger von Olivier Messiaens Titelfigur in Genf den Menschen im Mönch zeigt, den Franziskus somit irdisch diesseitig anlegt, meidet auch die Inszenierung jeglichen Anflug von Weihrauch-Katholizismus. Der Genfer Intendant Aviel Cahn, designierter Chef der Deutschen Oper Berlin, setzt wie einst seine Vorgänger in Charlottenburg auf die starke Handschrift eines visuellen Künstlers: Zeichnete in Berlin im Jahr 2002 der amerikanische Architektenstar Daniel Libeskind für „Szenische Konzeption, Bühne und Kostüme“ verantwortlich, ist nun in Genf in ganz ähnlicher Gesamtkunstwerkverantwortung Adel Abdessemed für Regie, Bühne, Kostüme und Video zuständig.
Der aus Algerien stammende, heute in Paris lebende Künstler arbeitet installativ und mit Videos, etwa auf der Biennale in Venedig waren seine Großausstellungen zu erleben. Seine Skulpturen wirkten oft verstörend auf das Publikum, oft nutzte Abdessemed Tiere als Motiv, um Gefahr, Gewalt und Tod zu thematisieren. Die Vanitas, seit der Barockzeit Topos der Künste, taucht bei ihm immer wieder auf. Messiaens Naturnähe, die sich in seiner einzigen Oper im auskomponierten Vogelsang, dem Lobpreis der Herrlichkeit der Schöpfung und konkret in der berühmten Vogelpredigt des Heiligen offenbart, und die aktuelle Klimadebatte können da aus Werkvorlage und Gegenwartsbezug ein fruchtbares Spannungsfeld ergeben.
Die starken Schauwerte mancher Bildfindungen haben nicht immer theatralischen Mehrwert
Adel Abdessemed findet für die acht Tableaux der Oper unterschiedlich starke Bilder. Zwei riesige vom Bühnenhimmel herab- und wieder hinaufschwebende Scheiben sind darin als szenisches Leitmotiv zu erkennen. Der charakteristische Stern des Judentums verweist darauf auf den Ursprung der monotheistischen Weltreligionen. Ansonsten dienen die Scheiben den zahlreichen Videoprojektionen der Inszenierung, die im besonderen den Darstellungen von Vögeln gewidmet sind, die Messiaen wie Franziskus gleichermaßen verehrten. Das ewige Kreisen der Zeit versinnbildlicht im zweiten Bild „Die Laudes“ die Kopplung eines archaischen Mühlsteins auf der Bühne mit zwei tanzenden Robotern im Video.
Nun ja, der Schauwert solcher Bildfindungen als Versatzstücke aller Kulturepochen hat seinen Reiz, der theatralische Mehrwert bleibt begrenzt. In der Begegnung des Heiligen mit dem Leprakranken (Aleš Briscein mit tenornasaler Intensität), den Franziskus wie einst Christus den Aussätzigen heilt, ist dann demütiger gehalten. Vollgestopfte Einkaufswagen verweisen hier auf die Szene von Obdachlosen, denen der Kranke ebenso anzugehören scheint wie Franziskus selbst und seine Mönchsbrüder, deren Kostüme mit allerhand Zivilisationsmüll (von CDs bis Elektroschrott) behängt sind. Sogar am Gewand des Heiligen hängen pralle Tüten mit den wenigen Habseligkeiten des bewusst Besitzlosen aus eigentlichem gutem und reichen Hause. Hier schließt sich der Kreis zum vokalen Portrait der Titelfigur durch Robin Adams: Es sind die Armen der heutigen Welt, um die es hier geht, und weit weniger die religiösen Schwärmer des späten Mittelalters.
Eine die Kulturen und Religionen übergreifende Auseinandersetzung mit Ewigkeit und Empathie
Die frühe Setzung von Adel Abdessemed, dass es ihm kaum um katholischen Weihrauch geht, sondern um eine die Kulturen und Religionen übergreifende Auseinandersetzung mit Ewigkeit und Empathie, zeigt sich mitweilen auch allzu politisch korrekt, wenn der von seinen Leiden erlöste Leprakranke in einem orientalischen Hamam Einzug hält, in dem sich aufreizende Muslima gegenseitig den Rücken waschen. So ist neben Judentum und Christentum dann auch der Islam integriert – damit aber auch abgehakt. Denn weitererzählt werden solche Geschichten nicht.
In seiner assoziativen Kraft deutlich stärker ist das sechste Bild vom reisenden Engel zu Beginn des zweiten Aktes: Hier finden sich die Mönche als Putzkräfte in einem Museum wieder, welches neben dem berühmten Cimabue-Bildnis des Heiligen auch ein Fresko des Verkündigungsengels zeigt, mit dem sich der singende Engel der Oper (Claire de Sévigné räumt mit ihrem irisierend berührenden grazilen Sopran so richtig ab) vergleicht und dessen Gesten launisch nachstellt. Hier findet Abdessemed zu einer Leichtigkeit des Erzählens und Zeigens, die dem Werk nie seine Tiefe nimmt, sondern für sanften Humor sorgt und die Allgegenwart der Geschichte sinnig umsetzt.
Messiaens Musik erhält umfassenden Raum, wenn sie zu voller Größe und überwältigender Schönheit aufbraust
Ein Verdienst der Inszenierung ist freilich auch, dass sie Messiaens Musik immer dann alleinigen und umfassenden Raum gibt, wenn diese zu voller Größe und überwältigender Schönheit aufbraust. Da das Orchestre de la Suisse Romande hinter dem Geschehen auf der Bühne positioniert ist, kommt ihm visuell wie akustisch eine gesteigerte Bedeutung zu. Jonathan Nott macht Messiaen zur Chefsache und findet zu einem ganz eigenen Ton in einer orchestralen Sublimierung ins Feinstoffliche. Messiaens Mosaiktechnik einer „musique en vitrail“ – einer „Kirchenfenstermusik“ also – inspiriert Nott zu einer klangfarblich extra fein ausgehörten Lesart der Riesenpartitur, die hier so filigran, ja kammermusikalisch wie nur ganz selten zu hören ist. Und dabei – und dies ist das Wunder des Abends – ihre Magie und ihre Sogkraft umso mehr entfaltet, als jede vordergründig überwältigende Interpretation dies tun könnte.
Viel Exzellentes ist zudem von den mönchischen Brüdern des Franziskus zu hören, allen voran von Kartal Karagedik als baritonbalsamisch tönendem Léon. Am Ende eines sehr langen und dennoch packenden Abends hat man vergessen, dass Adel Abdessemed kein Regisseur ist, es also im engeren Sinne an genau gearbeiteter Personenregie mangelt. Denn hier fügen sich Bilder, Gesang (auch der Chor beweist einmal mehr seine Sonderklasse) und Orchester zu einem Klangtheater der ganz eigenen Art, das Messiaens Opernunikum auch auf ganz eigene Weise gerecht wird.
Grand Théâtre de Genève
Messiaen: Saint François d’Assise
Jonathan Nott (Leitung), Adel Abdessemed (Regie, Bühne, Kostüme & Video), Jean Kalman & Simon Trottet(Licht),Stephan Müller (Dramaturgie),Mark Biggins (Chor),Robin Adams, Claire de Sévigné, Aleš Briscein, Kartal Karagedik, Jason Bridges, Omar Mancini, William Meinert, Joé Bertili, Anas Séguin, Chor des Grand Théâtre de Genève, Chor Le Motet de Genève, Orchestre de la Suisse Romande