Zerrissen zwischen der Liebe einer zweifachen Mutter und den Rachegelüsten einer verlassenen Frau schleudert die titelgebende Zauberin im Schlussakt von Luigi Cherubinis „Medea“ einen Satz in den Saal, der in dieser Tragödie einer der größten, gleichsam überlebensgroßen weiblichen Gestalten der griechischen Antike fast alles sagt: „Io son Medea!“ – „Ich bin Medea!“ Die scheinbar schlichte Sentenz ist in einer Art und Weise die maximale Verdichtung ihres Schicksals, dass die drei Worte – bereits anno 1797, noch im Nachgang Mozarts, von Cherubini in eine Musik der lodernden Leidenschaft gesetzt – auf einen Trick Giuseppe Verdis vorausweisen, den er selbst „Parola scenica“ nannte: Wohl wissend, dass auch muttersprachliche Opernfans niemals jedes Wort des Librettos verstehen können, setzte Cherubinis Landsmann auf einige wenige absolut prägnante sprachliche Zuspitzungen, die er derart vertonte, dass sie auch wirklich in jedem Falle bewusst wahrgenommen werden können – was im Ergebnis das Kapieren größerer Zusammenhänge von innerer wie äußerer Handlung ermöglicht.
Vom Stolz einer tief verletzten Frau
Wenn Maria Callas diesen Satz sang, dann legte die signifikanteste Sängerdarstellerin des 20. Jahrhunderts den ganzen verletzten Stolz der Medea (und mutmaßlich sogar ihren eigenen) in ihn. Und machte mit ihm deutlich: Wer eine Frau wie mich so behandelt, den darf ich vernichten, dessen neue Liebe darf ich ebenso zerstören wie die Früchte unserer früheren Liebe. Denn: Ich bin Medea. Natürlich hadert sie mit dem Zwiespalt zwischen dem tödlichen Hass auf den untreuen Jason und ihrer Mutterliebe, doch am Ende sind es eben ein wenig mehr „seine“ Kinder als die ihrem Schutz anvertrauten Unschuldswesen. Erschütternder kann die griechische Tragödie nicht sein, das war zu Euripides Zeiten (der uns die Geschichte übermittelte) so, das war zu Cherubinis Zeiten so, zu Callas‘ Zeiten wie zu den unseren. Zumal an der Greek National Opera, wo der Nachhall der Callas-Medea so präsent ist wie sonst nirgends in der Welt der Oper.
Zum 100. Geburtstag der griechischen Amerikanerin (oder doch eher: der amerikanischen Griechin?) ist die Premiere von Cherubinis „Medea“ nun Auftakt zu weit bis in den Herbst hineinreichenden Monaten des Gedenkens an jene Künstlerin, die in New York geboren, mit 17 jungen Jahren in die Heimat ihrer Eltern kam und dort 1940, somit in diffizilen Kriegszeiten, Gründungsmitglied der damals noch ganz neuen Greek National Opera wurde. Parallel studierte sie in Athen. Nach ihren (von mit weniger vokalen Gottesgeschenken begnadeten Kolleginnern argwöhnisch beäugten) Lehrjahren in der Heimat ihrer Familie kehrte sie Griechenland des Rücken, machte ab 1947 zunächst in Italien Karriere, wo sie just der „Medea“ überhaupt erstmals in der Aufführungsgeschichte des Werks zu durchschlagendem Erfolg verhalf. Denn die Pariser Premiere in der französischen Fassung mit im Stil der Opéra comique versehenen gesprochenen Dialogen hatte nie für eine nachhaltige Wertschätzung sorgen können. Erst die der Callas wie auf den Leib geschriebene italienische Fassung, die auf die dramatisch flammenden Rezitative von Franz Lachner zurückgreift, sorgte für den Durchbruch dieser „Medea“. Es ist dies eine Version weit mehr aus dem Geiste des 19. Jahrhunderts als eine, die Cherubinus Wurzeln bei Gluck und Mozart finden würde. Der stürmisch jugendliche Verdi wird hier vorweggenommen, man spürt aber auch Querverbindungen zur deutschen Frühromantik, wie sie Carl Maria von Weber in „Der Freischütz“ prägte.
Im langen Schatten der Callas
Das Problem einer jeden Aufführung dieser italienischen „Medea“ ist und bleibt aber der lange Schatten der Callas. Was bei anderen ihrer Signetpartien wie Puccinis „Tosca“ oder Bellinis „Norma“ durch die hohe Zahl von prominent besetzten Interpretationen mittlerweile weniger stark ins Gewicht fällt, ist im Falle Cherubinis eine echte Herausforderung: Man hat, ob man will oder nicht, die Callas im Ohr. Man vergleicht, so ungerecht dies auch sein mag, jede lebende und durchaus bravouröse Sopranistin der Gegenwart mit dem Medea-Modell, das La Callas nun einmal geschaffen hat. Und man schämt sich, auch als Rezensent der aktuellen Premiere, ein wenig, aus diesem Zwang nicht wirklich herauszukommen und beruhigt sich dann einfach damit, dass Zwänge nun einmal zu den im antiken Drama vielgestaltig variierten psychischen Abgründen gehören, denen wir alle nicht vollends entkommen können. „Nur“ 62 Jahre ist es her, dass Maria Callas dem Gedächtnis der Griechen ihre Lesart der legendären Frauenfigur einschrieb: Das war am 6. August 1961, als sie längst ein internationaler Superstar der Oper war und die Rückkehr nach Griechenland zum nationalen Ereignis wurde. Ort der beiden Aufführungen war indes kein Opernhaus, sondern das Amphitheater von Epidaurus, das rund 15 000 Menschen Platz bietet. Wer das imposante, exzellent erhaltene, akustikfeine und in eine liebliche Landschaft der Peleponnes eingebettete Bauwerk besucht, kann annähernd die Magie ermessen, die das Erscheinen der Diva damals gehabt haben muss.
Anna Pirozzi in der Titelpartie kam, sang und siegte. Sie braucht den Vergleich mit der Mega-Medea nicht zu scheuen.
Zu Beginn der jetzigen Premiere im erst 2007 eröffneten spektakulären, von Renzo Piano entworfenen neuen Opernhaus der griechischen Hauptstadt führte dessen künstlerischer Direktor Giorgos Koumendakis eine Dame als Ehrengast auf die Bühne, die in bewegenden Worten Zeugnis vom Erbe der Callas ablegte: Die 1936 geborene Mezzosopranistin Kiki Morfoniou sang 1961 in der Partie der Neris als Medeas Amme an der Seite der Primadonna assoluta in Epidaurus, im Jahr zuvor war sie dort neben Callas die Adalgisa in der „Norma“. Freudig durfte die bedeutende Sängerin dann erfahren, dass die junge Vertreterin ihrer damaligen Partie einen Riesenerfolg verbuchen konnte: Nefeli Kotseli gab mit ihrem warm pastosen Mezzo eine empathisch mit Medea mitleidende Neris von Weltklasse. Ihr Debüt in der Titelpartie und gleichzeitig ihr Griechenlanddebüt aber gab Anna Pirozzi. Die Italienerin, die mit Verdis Abigaille aus „Nabucco“ unter Riccardo Muti vor zehn Jahren ihren Durchbruch bei den Salzburger Festspielen feierte, gehört längst zur Spitzengruppe der dramatischen Soprane im italienischen Fach. Und bewies mit ihrer ersten Medea auf überwältigende Weise, warum dies so ist. Wie die Callas gebietet sie über eine dunkel flammende, imposant große Sopranstimme, die alle Register von der Brust- bis zur Kopfstimme bruchlos ineinander übergehen lässt. Ihre wuchtig ausgebaute Mittellage erinnert im Timbre sogar an den so spezifischen Klang der prominentesten Rollvertreterin. Ihre Höhe ist von markerschütternd intensiver Durchschlagskraft, dabei technisch perfekt kontrolliert. Über allem steht die furchtlose Unbedingtheit ihrer sängerdarstellerischen Identifikation. Da ist einfach jede Phrase affektgesättigt und dramatisch durchpulst. Von Premierennervosität und dem Risiko, mit der Mega-Medea verglichen zu werden, war so gar nichts zu spüren.
Alle anderen Figuren sind nur in der Relation zu Medea von Bedeutung
An der Seite der beiden Leading Ladies starke Charaktere zu formen, ist insofern schwierig, als alle anderen Figuren – dies ist durchweg ein dramaturgischer Knackpunkt des Werks – nur in der Relation zu Medea von Bedeutung sind, aber wenig eigene Persönlichkeit entwickeln. Yanni Yannissis löst das Problem als Creonte am besten. Sein Bass-Bariton verbindet Autorität mit Belcanto-Kantabilität. Giorgio Berrugi hat zwar (heldisches) Stamina wie (lyrischen) Schmelz für den so maximal unsympathischen Giasone, nur die Imaginationskraft fehlt ihm, der Negativfigur wie auch immer interessante Züge abzugewinnen. Mit angenehmer Natürlichkeit leiht Vassiliki Karayanni ihren leichten Koloratursopran Medeas Nachfolgerin in den Armen Giasones. Maestro Philippe Auguin bringt seine jahrzehntelange Erfahrung im italienischen Repertoire ein, um das Orchester der Greek National Opera zu seinem feurigen Spiel anzustacheln.
Die Neuinszenierung sieht alt aus
Regie und Bühne von David McVicar, dessen Inszenierung von der koproduzierenden New Yorker Met übernommen wurde, fügt der musikalischen Exzellenz wenig Sinnstiftendes hinzu, allerdings stört sie auch nicht weiter. Die Verlegung des antiken Stoffes in die Endphase des Ancien Régime – mit üppigen Chorroben und Rokokoperücken – folgt einer allzu oft erprobten Methode, die Geschichte in der Entstehungszeit eines Stücks zu erzählen. Statt Personenregie setzt der Schotte auf Ausstattungsopulenz, der er dank eines riesigen Spiegels an der Rückwand der Bühne zu besonderer Sichtbarkeit verhilft. Die in Inszenierungs-Ästhetiken sonst so ambitionierte Greek National Opera schien hier ein Zugeständnis an die konservative MET machen zu müssen. Das tat dem Erfolg dieses Auftakts keinen Abbruch.
Und das weitere Programm zu Ehren des 100. Geburtstags von Maria Callas macht ohnehin Lust auf mehr. Im Juni wird Olivier Py im Odeon des Herodes Atticus „Madama Butterfly“ neu inszenieren. Es folgen bis Jahresende Installationen, Filme, eine Ausstellung, Workshops und eine Operngala.
Greek National Opera
Cherubini: Medea
Philippe Auguin (Leitung), David McVicar (Regie & Bühne), Jonathon Loy (Regisseur der Einstudierung), Hannah Postlethwaite (Mitarbeit Bühne), Doey Lüthi (Kostüme), Jo Meredith (Bewegungsregie), Paule Constable (Licht), S. Katy Tucker (Projektionen), Agathangelos Georgakatos (Chor), Yanni Yannissis, Vassiliki Karayanni, Giorgio Berrugi, Anna Pirozzi, Nefeli Kotseli, Nikolas Douros, Despoina Skarlatou, Martha Sotiriou, GNO Orchestra, Chor der Chorus of the Greek National Opera